Das „Recht der informationellen Selbstbestimmung“ zeigt: „Viele Experten halten das Auslesen von Informationen aus E-Mails zu Zwecken der Werbung für einen erheblichen Verstoß gegen die Vorschriften des Datenschutzes. [Und jetzt kommt das angesprochene Unternehmen – das kapitalistische Eigeninteresse – selber zu Wort:] Wir gebrauchen diese Informationen intern, um Ihnen den besten Service liefern zu können, so zum Beispiel Verbesserungen am Nutzer-Interface, Verhinderung von Betrugsversuchen bei unserem Reklame-System und bessere Zielgruppen-Werbung.“ Liest sich wie Zielerfassung: im Fadenkreuz sind die künftigen (Konsum-) Abhängigen. Nur wer vielfältige Daten über sich preisgibt, liefern lässt, kann sich des Komforts der Nutzung „sozialer Medien“ versichern und sich im Netz – im solistischen Massenkonsum– gefangen nehmen (lassen). Die Versicherung schließt den Komfort ein, Werbeziel zu sein, selbst das Produkt zu sein. Aber gerade diese Durchleuchtungen entpersönlichen den privaten Gebrauch, weil sie aus dem Lieferanten der persönlichen Daten eine auf den wirtschaftlichen Verkehr reduzierte werbeträchtige Datensatz-Person machen. Die jeweilig ermittelten Werbe-Ziele, die nun durch Daten individualisiert zum Kunden herausgeschält worden sind, sollen ihn auch treffen und ihn schlagkräftig bearbeiten können. Angesichts der technischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung (hinsichtlich welcher sie entwickelt werden) ist nichts, was es überhaupt über jemanden zu wissen gibt ohne Belang. Es gibt keine sinn- oder nutzlosen Daten mehr.
Daten Daten Daten
Jede menschlich motivierte Fortbewegung hinterlässt im 21. Jahrhundert Datenspuren. Die in sozialen Medien durch individuell entschiedene Posts erzeugte Persönlichkeit folgt dem Glauben, die eigene Öffentlichkeitsäußerungen kontrollieren zu können. „Was jemand ist, verdankt er der Kontrolle seiner Erscheinung.“ – Das ist im 21. Jahrhundert eine Illusion. Es entsteht eine durch Daten generierte Doppelwelt des Menschen. Alltägliche Kommunikationsmittel (Smartphone) weben deren Nutzer nicht lediglich in das zu Kommunizierende, sondern überhaupt in andere durch das Kommunikationsvermögen entstehende Zwecke/ Interessen ein. Selbst das Gespräch zwischen zwei Personen schafft abertausend potentielle Zuhörer. Das Sprechen erzeugt jenseits seines zwischenmenschlichen Bedeutungs- oder Beziehungszusammenhangs Kontextualisierungen für digitale Systeme der Produktion und für deren Netzstrukturen. Die Bedeutungssuche – welches Nutzerprofil liegt über den Kunden XY vor usw. – erschleicht sich mehr Daten über den Nutzer als der betroffene Nutzer imstande ist, von sich selbst zu entwickeln. Die vom Nutzer generierten Daten-Umfänge drohen ihn in die über ihn entwickelten Algorithmen zu entleeren: Er wird algorithmisch vorhersagbar. Die persönlichen Datenspuren werden für die Nutzer-Person selbst zu unlesbaren Hieroglyphen einer digitalen Biografie – sie ist virtuell, weil sie kaum analog für das Subjekt ratifizierbar ist. Die Biografie hat ausgedient, aber der biografisch intendierte Datensalat ist ein Schmaus für Werbefirmen. Für Produkte sind ausgesuchte, d. h. datensichere Kunden bedeutender als die Produkteigenschaften für den Kunden selbst. “Die meisten Unternehmen wissen gar nicht, wie wertvoll die Daten sind, die ihnen über ihre Kunden vorliegen. Wir strukturieren Ihre Daten und schaffen Zugriffsmöglichkeiten, generieren interne und externe Zusatzinformationen und schaffen Wissen zu jedem Kunden. Damit ihre Entscheidungen immer auf einem starken Fundament stehen.“
„[Es] zeigt sich auch, dass kein klarer Trennungsstrich mehr gezogen werden kann zwischen Daten, die von Privaten für wirtschaftliche Zwecke erhoben werden und Daten, die der Staat für öffentliche Zwecke nutzt (…) Umgekehrt kann über Ermächtigungen, beispielsweise in der Strafprozessordnung oder in spezialgesetzlichen Regelungen, der Staat selbst auf von privater Seite erhobene und genutzte Datenbestände für seine eigenen, jeweils bestimmt zu umreißenden Zwecke zugreifen.“
Konklusion: Im Bewusstsein der bösen Vor-Ahnung, kann man sagen, dass kein auch noch so subjektiv motiviertes digitales Handeln im Internet wieder in subjektiver Aneignung, Bemächtigung mündet. Während eine geheuchelte Darstellung des Privaten – als versuchte Lebensinszenierung – ermöglicht wird, erscheint der Rückzug aus der digital operierenden wie vernetzten Öffentlichkeit desto dringlicher für das unter digitaler Objektivierung stehende und sich fühlende Individuum. Damit befindet es sich bereits in einer psychischen Drucksituation, sein sich veröffentlichendes Verhalten gegen die permanent vernetzte öffentliche Anteilnahme anzupassen, zu verändern, es unsichtbar zu machen. In einer Art Maschinenstürmerei, Kunstaktion werden die Handys in den Fluß geworfen und wieder heraus gefischt. Das „prophylaktische Sicherheitsbedürfnis“ des Staates, des Unternehmens gegen potentiell wie paranoid reale Gefahren löst die Sicherheit – Privatsphäre – des Einzelnen und damit seine Privatheit auf. Die Paranoia des Staatsapparates, des Unternehmens als dessen Misstrauen gegen das lebendige, nicht vorhersehbare chaotische Wesen macht alle zu Patienten und zu potentiellen Zuträgern des Verrats.
Die elektronische Datenerfassung als Enteignung persönlicher Daten. Der digitale Netzfaden einer Person kann als unternehmerische Anteilnahme am persönlichen, einzelnen Leben aufgefasst werden. Eine Art Interesse an der Person, die sie selbst – als Datenproduzent – nicht spürt. Jede weitere Verschachtelung mit oder in Netzwerken, jeder weitere digitaler Faden (Spur) hält die Person als Kunde fest. Ein Halt wie Festgehalten-Werden zugleich: in der Echokammer selbstreferenzieller Netze.
„Der Glaube an die endgültige Berechenbarkeit der Welt wird gestützt von einem Apparat, dessen Macht ins schier Unendliche wächst, wenn die Politik auch daran glaubt. In diesem Fall aber werden immer weniger Einzelentscheidungen gebraucht, sondern immer mehr und mehr Daten. Das ist das Gruseligste an dieser Ideologie: Sie konstruiert aus einem Wust von Daten eine vermeintliche Realität, in der keine persönliche Verantwortung mehr für maschinell getroffene und ausgeführte Entscheidungen übernommen werden muss. Diese datengetrieben Ideologie zielt auf eine Entpolitisierung der Macht, auf die Virtualisierung der Verantwortung. Und damit auf die Aushöhlung der Demokratie. Und es handelt sich nicht um ein isoliertes Phänomen der Terrorbekämpfung.
Denn der Fortschritt selbst – die sozialen Medien mit neuen Datenkategorien, die Beherrschbarkeit großer Datenmengen, die Robotik – hat nebenbei die Bereitschaft erhöht, mehr und wichtigere Entscheidungen der Maschine zu überlassen. Je komplexer die Aufgaben, die Maschinen sichtbar bewältigen, desto mehr unterstellt man eine Lösungsintelligenz.“
Ein promotheisches Gefälle.
Die persönliche Hingabe für einen anderen Menschen als Projekt, als Projektion des eigenen Anspruchs an sich selbst: Aus dem Agieren gegenüber dem Anderen erwächst der Anspruch, von ihm ebenso behandelt zu werden: als Bestätigung des eigenen Verhaltens gegenüber dem Anderen durch den Anderen. Das „Gleiche-Tun“ im Kontext eines gemeinsamen, das heißt: nachahmenden Handelns – in der Interaktion mit anderen – stärkt das eigene Handeln durch die (bestätigende) Spiegelung der anderen Interaktionspartner. Die selbst erfahrene Be-Handlung durch andere Interaktionspartner kann zum Muster eigenen Verhaltens werden: soziale Internalisierung. Das Nachahmen von Verhalten, von Interaktionen ist daher früh ein sozialer Spiegel im Prozess von Sozialisation, um erwartbare kommunikative Strukturen (Verhalten) zu konstruieren. Das Verhalten der anderen löst leicht eine Selbstbezüglichkeit zum eigenen Verhalten aus, das wiederum rekursive Schleifen interpersonaler Kommunikation antreibt. Man agiert vor sich selbst – und den anderen – , wie man mit anderen zu agieren erwartet. Das eigene Verhalten wird durch den Anderen gespiegelt als (Selbstbe-) Spiegelung des eigenen Verhaltens (gegenüber ihm). Die Selbstdisziplin – das selbstgerechte aufmerksame Verhalten im sozialen Umfeld – wird zur Verhaltenserwartung gegen andere. Die andere Seite des Selbstspiegels: Wer sich nicht schont, wird weniger noch andere schonen – das eigene Verhalten zur Umwelt wird zur Erwartung, dass die Umwelt ebendieses Verhalten (zurück) spiegelt.
Die andere Seite:
Dem von einem Anderen gehegten Anspruch gegen die eigene Person nachzugeben (z. B. der Sorge des Anderen zu entsprechen) oder zu erwidern, sich hin zu neigen zum „Gegen-Ich“, zum Außer-Ich-seienden, das gegen oder für mich wirkt, das mich als „den Anderen“ sucht (wie ich ihn), spiegelt die Praxis einer Neigung wieder, die das gebende, hinneigende oder sonst wie Bereitschaft zeigende Ich schon in seinem Anspruch an sich selbst aufgestellt hat und von jetzt an weiter entwickelt. Dasjenige Ich benutzt die Optik des Dienstes, Dienens, um den vergifteten Kelch einzuschleusen: Im Dienst am Anderen, im Spiegel der Vergewisserung, wird das Ich sich seiner projektiven Spiegelung gleich – seiner Projektion des Ich im Anderen: Der Andere soll dem Anspruch des eigenen Ichs folgen – koste es, was es wolle. Der Andere soll mir schuldig sein, was ich von ihm brauche. Das selbstkonstruierte Bild des Ich ist dasjenige, dem es aufrichtig dient – und: das dem Anderen als Projektion seiner selbst zu Diensten ist. Der Andere, den das Ich stets als sein Spiegelbild – Konterfei, seine Maske – konstruiert, ist der, der dem Ich zum Ich verhilft. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Anderen kommt einer Klage für sich gleich – so möchte man sich selbst geholfen wissen.
Damit das gesellschaftlich bestimmte – also sozial verortete – Individuum in der Entäußerung seiner selbst, im selbstisch-kreativen Verbrauch seines menschlichen Abstreifens des Tiers, zur ausdrucksmäßigen Natur seiner gesellschaftlichen Emanzipation kommt, an ihr partizipieren kann, braucht es nicht die Herabsetzung seiner ursprünglich tierischen Kinderstube, seines produktiven Standes seiner Häutung, seine Ausschlachtung seiner Gelüste. Der so markierte Mensch muss zuerst die beschränkenden wie normativen Voraussetzungen, also Zugangsbedingungen zur gesellschaftlichen Teilhabe mit menschlicher Äußerungswut überwinden dürfen: Mit der Differenzierung zwischen eigenem – formalen, beschreibbaren – Ermessen im Verhältnis zu konfrontativen sozialen Umwelten sind Kunstwerke transformatorische Akte der Aneignung dieser Ambivalenz. Der künstlerisch tätige Mensch beginnt also als sozial geforderter Einzelkämpfer, als ein sich selbst ernannter Künstler, schottet sich von seiner in Angriff genommenen Umwelt ab, und schreit solang bis alle an ihm partizipieren oder nicht mehr weghören können. Die Exklusivität künstlerischer Tätigkeit hört auf, wenn sie als soziale Inklusion für alle Beteiligten – in Produktion, Perzeption, Partizipation – begriffen wird. Man sagt, die alltäglichen Verhinderungen des Menschen seien in seiner Geschichte selbst, seinen Biografien zu suchen. Als würde das in uns eingeblutete Tier uns ohnmächtig in unser Schicksal einzwängen, um gegeneinander loszugehen bis der Stärkere überlebt. Aber das ist die Forderung, dass wir auf unserer bisherigen Geschichte sitzen bleiben sollen und unser Geschick nicht in Frage stellen. Alles menschlich zu Entwickelndes wäre verurteilt zum religiösen, esoterischen, ideologischen projektiven Warten oder Glückhaben auf St. Nimmerlein. Den Menschen nur als Instinkt geleitetes Tier herauszufordern, den sozialen Zusammenhang als Natur gegeben zu provozieren, offenbart das vergeistigte Tierreich des zerstörerischen Produktionszwanges im Sinne des „Only the fittest survive“. Die Mütter treiben ihren Neugeborenen menschliche Möglichkeiten der Existenz aus, um selbst funktionieren zu können und: damit die Geborenen eine zukünftige Chance haben.
Die neuen Voraussetzungen einer humanen Gesellschaft sind an die Bedingung der Ablösung der alten gebunden. Bleibt also nichts anderes, als mit sich selbst zu beginnen – bis eine kritische Masse erreicht ist? Marx redet vom Sprengen der Verhältnisse und Lenin von missionarischen Außerirdischen:
„Was den Appell an die Masse zur Aktion betrifft, so wird das von selbst kommen, sobald es eine energische politische Agitation, lebendige und aufrüttelnde Enthüllungen geben wird.“[…] “Das politische Klassenbewußtsein kann den Arbeitern nur von außen gebracht werden.“
Die Universalisierung privater Ansprüche z. B. am Konsum orientierten Unterhaltungen, die ver-braucht werden zur Ablenkung von menschlicher Einzelheit, Einsamkeit, führt zur Konstruktion menschlicher Differenzen außerhalb des Konsum-Bereichs. (Man definiert sich über den Besitz.) Das permanente Angebot zur Unterhaltung wirkt als existentielle Bremse auf den durch Konsum vereinzelten Ver-Braucher, denn er kann sich seinen menschlichen – nicht konsumtionellen – Bedürfnissen kaum noch stellen und tötet seine Geselligkeit. Der konsumtionell repräsentative Uniformierungsdruck durch die funktionalen Schranken normativer Gesellschaft (Geld, Besitz, Job, Herkunft) schlägt bis zum als privat inhaliertem Interesse durch, um nicht gänzlich von der rohen aber gesellschaftlichen Beteiligung ausgeschlossen zu werden. Die „freie Entwicklung eines jeden“ als „Bedingung für die freie Entwicklung aller“ wird blockiert.
Ich habe diesen Artikel vor ungefähr 15 Jahren geschrieben; knietief in der Marx Exegese und mit Kritischer Theorie befangen. Diese Beschäftigung half mir, meine Wut zu regulieren.
Die Bedingungen der Möglichkeit ein Bild zu malen: aus Neigung, aus biografischer Exposition, wie auch immer existentiellen Bedürfnissen oder aus der puren Möglichkeit heraus, selbst die Gründe wählen zu können, ein Bild zu malen, kollidiert irgendwann mit sozialen Bedingungen, es unter diesen Bedingungen herzustellen – mehr oder weniger. Die Schwierigkeiten, einem Bild sozialen Sinn zu leihen, es bekannt und zugänglich zu machen, d. h. auch: sozialen Raum zu geben, folgen daraus. Die Bedingungen der künstlerischen Arbeit sind realistisch (sozial real) ihre Möglichkeiten utopisch. Die Herstellung und Verwertung der Kunstwerke wird auf noch nicht realisierte Möglichkeiten projiziert oder zumindest Zufälligkeiten (bzw. wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeiten) überlassen. Die zumeist prekären Bedingungen der Herstellbarkeit und Ausstellbarkeit von singulären Artefakten als soziale Praxis von Lebensvollzug begriffen, sind der immanente Gegenpol eines künstlerischen Lebensentwurfs (gibt es das überhaupt?), der naiv mit seiner Lebenserhaltung rechnet. Wie soll das Kunstmachen sozial bestimmt sein, wenn es von prekären Bedingungen der Herstellbarkeit bedingt wird? Die Herstellung Guerilla-like und das Produkt preisverdächtig? Warum ist der ästhetisch-ethische Weltvollzug unabdingbar für das Künstlerleben, trotz das es sich dem Verdacht des Exhibitionismus, gar Narzissmus aussetzt?
Je totalitärer, d. h. je unkonkreter die Fragestellungen in der Beschreibung zu einem Ereignis inszeniert werden – „Brauchen wir Fliegen, Schweißausbruch und kalter Schauer, Wovor die Deutschen Angst haben, Ratlose Politik, Mutlose Bürger: Sparen wir uns kaputt?“ usw. – , desto absurd-trivialer müssen die Antworten ausfallen. Es sind in ihren verschlungensten Ästen bereits anästhetische Mittel der Desinformation; bei so viel hinterlassener Ohnmacht oder Ja-Nein-Zwangsarithmetik.
Die breite Masse wills doch so. – Demokratie als Massenverhältnis, das sich selbst frisst? Dieses Demokratie-Verständnis drückt kein Massenverhältnis aus, sondern vielmehr Massenverformung.
Dass die Ereignisse an ihre Beschreibbarkeit gebunden sind, wird im Verhältnis der Beschreibung zum Beschriebenen durch den Beobachter ausgedrückt. Der Ausdruck geht so weit wie meine Sinne gehen. Die medial gelieferten Beschreibungen schrumpfen die zu beschreibenden Erlebnis-Gegenstände zu Format gerecht erstatteten. Immer wieder steht vor Augen, dass ein sinnliches Ereignis, wenn es zur Nachricht transformiert und verkürzt wurde, das zu Berichtende durch die Be-Richtung auslöscht. Durch populäre wie populistische Medien, durch deren Empfänger empfangen, ist der Gegenstand – das Ereignis – zum gemachten Nichts, zum Schon-passierten aus-gewiesen. Die Informationsmaschinerie konstatiert nur, stampft das Gestern fest. Das schiere Passiertsein lässt die Zukunft entschwinden, nagelt die Gegenwart auf ihre Beschreibung fest.
Es wäre ein Verdienst der Beschreibenden mit der Beschreibung auch die Beschreibungsmittel und Methoden aufzuklären.
Über den inszenierten Skandal an der einzelnen prominent im TV herausgehobenen Person, im skandalös in die Öffentlichkeit hervorgehobenen anti-sozialen Akt ihrer Verschämung, versuchen Medien-Unternehmen die strukturelle Korruptheit ihrer Nachrichten-Produktion mit inszenierten Schicksalen zu maskieren. Mit der unterstellten Aufmerksamkeit nach News überdecken sie eine unempfindsame Haltung gegen die einzelne Person mit der öffentlich geschlachteten Persönlichkeit zugunsten Gewinn bringender Einschaltquote. „Die Einschaltquote ist die Sanktion des Marktes, der Wirtschaft, das heißt einer externen und rein kommerzielle Legalität, und die Unterwerfung unter die Anforderungen dieses Marketinginstruments ist im Bereich der Kultur genau dasselbe wie die von Meinungsumfragen geleitete Demagogie in der Politik. Das unter der Herrschaft der Einschaltquote stehende Fernsehen trägt dazu bei, den als frei und aufgeklärt unterstellten Konsumenten Marktzwängen auszusetzen, die, anders als zynische Demagogen glauben machen wollen, mit dem demokratischen Ausdruck einer aufgeklärten, vernünftigen öffentlichen Meinung, einer öffentlichen Vernunft, nichts zu tun haben.“
Die Banalisierung des Elends irgendwo, indem aus ihm selbstrotierende, daher folgenlose Fakten konstruiert werden, ist unternehmerische Bedingung, sogenannte News zu produzieren. Als Quotient zum Glück durch unempfindsamen Abstand zu noch ärmlichen Verhältnissen. Einem Zeitungsartikel, SZ 28.9.2005 „Tretmühle der Lust“, ist zu entnehmen, dass Glück aus der Differenz zum Negativen, aus dem Vergleich zum noch Elenderen, Ärmeren entstehe, als ein Behagen des Bourgeois, „niemals erfahren zu müssen, wie sich die Produktivkräfte unter seinen Händen entwickeln mußten“. Und das Glück „verfliegt“, weil die komparative Analogie ebenso die Reicheren entdeckt. Die Herabsetzung des Hungers auf satte moralische Entrüstung, setzt keinerlei politisch-theoretische Kompetenz voraus oder instand. Das Publikum wird neutralisiert, weil die Dinge, Zustände, Tatsachen ohne Folgen und ohne geschichtliches Herkommen dargestellt werden. Zustände werden fatal als Zugeständnisse an die herrschende Zeit oder als Naturkatastrophen hingenommen. „Da waren hundert geschlachtet. Aber als tausend geschlachtet waren und des Schlachtens kein Ende war, breitete sich Schweigen aus, und es gab nur mehr wenig Hilfe. So ist es: >>Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr. Ein Mensch wird geschlagen, und der zusieht, wird ohnmächtig. Das ist nur natürlich. Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr halt.<<“
Das entrüstende „Gemeine und Böse“ in der Headline populistischer Zeitungen ist fett gedruckt sichtbar, aber die Entwicklung, das Warum wird nicht näher diskutiert. Die Headlines verstecken in der Trivialisierung der Zusammenhänge die Komplexität der Wirklichkeit durch ihr Geschrei, wollen nur auf die simple Entrüstung über das Böse aus: Die schönste aller Welten – Theodizee. Stillstand. Wer wirft die Berichte in den Fluß zurück? Wer gibt Wirklichkeit zurück?
Der TV-Besoffene soll auf Produkte, weniger auf den menschlichen Sinn seiner Vermögen bzw. auf seine menschlich zu entwickelnden Sinne reagieren. Die Trennung von Wirklichkeit und Wirkung – als Wirkung ist eine Nach-richt mediale Vergegenständlichung – ist klar als Quotient markiert: Die Durchsetzung von wirklichkeitsmächtigen Strukturen (gegen das private Subjekt), findet seinen Ausdruck im Begriff der Quote.
„Rinderhesse, gemischtes Gehacktes, Bratwurst“ – Komplexer wie simultan geht es nicht. Ein Gedicht.
Sex & Industry
Das Geheimnis, die Intimität der privaten körperlichen Lust wird im entsozialisierenden kapitalistischen Entkörperungsraum zur Ware vergegenständlicht – kapitalisiert – zum käuflichen Produkt (Angebot) wie zum technischen Vorgang des Kaufaktes funktionalisiert. Das Begehren wird Instrument einer warenförmigen Transformation in Sex-Produkte und somit allgemein zugänglich als warenförmige Projektion möglicher Ersatz-Befriedigung. Die Privatisierung des öffentlichen Raumes durch die medial vernetzte Veröffentlichung, Entblößung des Subjekts führt zur Auslöschung der Privatheit, die zugunsten ihrer ökonomischen Verfügbarkeit virtuell ermöglicht wird. Es geht um die warenförmige Besetzung und Ausbeutung sinnlicher Bedürfnisse. Wünsche werden Produkten eingemeindet, Bedürfnisse zur passenden Ware transformiert, angepasst: Kunde ist König oder Königin, aber über welches Reich? In dieser warenträchtigen Transformation werden Lippen aufgespritzt, die Schamlippen Prostituierter angehoben, oder andere körperliche Funktionen technisch zugänglich gemacht – Häute, Brüste, die Ärsche der Prominenten usw. Die Auslöschung des privaten Sexus durch dessen permanente warenförmige Vorwegnahme in sozialen und televisionären Kanälen kompromittiert dessen Fleisch. Die menschliche Lust wird auf genitale Organe erniedrigt, so dass schließlich Lust und Organ zusammenschmelzen; sie fallen in sich als Produkt zusammen. Inhaltlich ist nunmehr der Samenbeutel oder die Tiefe des Ausschnitts Messlatte des Erotischen. Die Marketingabteilungen haben längst erkannt, dass mit der Lust der Menschen immer zu rechnen ist. Der Mensch wird in seine animalische Natur zurückgetrieben, um seine Natur als Rohstoff zu verwerten. Der eigene Körper ist längst abhanden, ausgetrieben worden und man muss mit den Zombie-Waren-Körpern klar kommen, die fickend über dich ausgekippt werden.
Das sexuelle Verhalten als Verhältnis zu anderen, worin das Subjekt seine Menschlichkeit ausdrückt. Der körperliche Vollzug der Lust soll eine menschliche Brutstätte, eine monadische Kapsel außerhalb sexueller Normierung warenförmiger Welt sein. Das lustvoll liebende Ich ist für einen kapitalen Markt unzeitgemäß.
Der sozial agierende Mensch macht sich zum Gegenstand und Mittel seiner (gesellschaftlichen) Betätigung ausgehend von seinen vorgefundenen (gesellschaftlichen) Bedingungen und ebenso versucht er, sich als Gegenstand/ Mittel, sich als soziale Gegenständlichkeit begreifend, gegen die ihn selbst bedingenden gesellschaftlichen Bedingungen zu streiten oder für sich durchzusetzen und zu nutzen. Der gesellschaftlich bedingte Mensch ist daher sein eigener Gegenstand wie soziales Medium seiner Betätigung. Seine Bedingtheit – das ist seine Abhängigkeit vom sozialen Raum, in dem er lebt – erzeugt zugleich die Bedingungen seiner Lebensäußerungen. In der existentiell gelebten sozial normativen Form des eingerichteten Menschen erscheint ihm seine ihm ähnlich sehende menschlich-gegenständliche, sozial funktionale Einordnung, seine gesellschaftliche Anpassung als habituierte Bestätigung seines gesellschaftlichen Daseins. Aber es ist seine durch Anpassung losgetretene Enteignung, seine an ihm selbst bis zur Blutleere geführte Annexion durch die gesellschaftlich normativen Systeme. Das durch Anpassung abgespaltene Enteignete des Menschen steht ihm im gesellschaftlichen Verkehr als ausgelagertes Waren-Angebot seiner abgetretenen Wünsche gegenüber. Alles in den Schaufenstern oder Portalen ist ein Ersatz für das, was dem begehrenden Menschen nicht mehr gehört, was er hergeben musste. Partizipation als Selbstauslöschung. Die Aneignung von Gegenständen, Bedeutungen durch warenförmige Realitäten – als produktmächtiges, sinnlich-gegenständliches Verhalten zur Welt – führt zur Vergegenständlichung des Menschen. Das Material seiner Ich-Betätigung ist ihm gesellschaftlich als Produkt vorgegeben: nämlich das Ich als durch die sozial-mediale Allgemeinheit vermitteltes Produkt-Ich. Es bewegt sich in einer schon von ihm ausgesaugten, verlorenen Landschaft: das Individuum ist zum Material für sein Sein geworden. Material statt Bewusstsein. Das Ich wird sich selbst nur wiedergegeben als Käufer individueller Projektionen auf eine gesellschaftlich vermittelte Produktwahl. Dieses Individuum ist ein vergegenständlicht Weichgekochtes. Verankert im „individuellen Charakter“ von Massenprodukten.
Also schießen wir Fotos jederzeit und laden sie hoch?
In den abbildhaften Dokumentationen des alltäglichen Vollzugs von singulären Leben in sozialen Medien ist vielleicht eine moderne Wendung vom schwachen Ich-bin zum Gestern-war-ich als Form identifikatorischer Vergewisserungstechnik des Selbstseins zu suchen. Seinsgewissheit wird partizipatorischen likes überantwortet. Den durch den Fortlauf der Zeit drohenden wie befürchteten Verlust an erinnerbaren Erlebnissen des eigenen Lebens – als sozialer Orkus des Vergessens, wird mit steter Dokumentation via pics und reels versucht entgegen zu treten. Das Schicksal ist/ wird visuell geformt. Die Produktion fotografischer Reize hilft dem visuell stimulierten Gedächtnis der Beteiligten die vergangenen Zeiten anhand von fotografisch festgehaltenen Lebensmomenten zu organisieren oder paradiesisch zu interpretieren – der digitalen Sozialität überantwortet. „Die Fähigkeit, sich von der eigenen Vergangenheit zu lösen und Fragmentierung zu akzeptieren, ist der herausragende Charakterzug der flexiblen Persönlichkeit…“ Heißt: Als Nutzer sozialer Medien nutze ich fragmentarische Einblicke in mein soziales Leben, um es zugleich als Oberfläche meiner Existenz vermeintlich kontrollieren zu können: „Was jemand ist, verdankt er der Kontroller seiner Erscheinung.“ Fotos von Urlaubssonnenuntergängen, Familienzusammenkünften, Nahrungsmittelaufnahmen. Die Verbindlichkeit gemachter Erfahrung wird nicht durch ihre ästhetische Präsenz oder Einmaligkeit, sondern durch die Reichweite digitaler Netzwerke bzw. Plattformen erreicht: durch definierte digitale Formate und Schnittstellen werden Mindeststandards Plattform und Programm-Algorithmisch übergreifend anschlussfähig gemacht.
Technischer Erinnerungsverlust
Der zuerst nur analog-technische Erinnerungsverlust – als Verlust von Schriften, Barytpapier und Artefakten – entwickelte sich zu einem „Erfahrungsdruck“, dem entgegen zu fotografieren: Das heißt, möglichst schmeichelnde Facetten aus dem ichigen Leben in die Netzwerke, auf die Plattformen zu stellen: unforgettable. Ausgelöst dadurch, dass die Erfahrungen der Vergangenheit, des vergangenen Seins nicht zählen, sogar als sinnlos empfunden werden, wenn sie nicht in Bildstoff übersetzbar sind, weil abgeschnitten von akteuellen technischen wie sozialen Standards. Ein Kannibalismus memotechnischer Unmittelbarkeit der Abbilder frisst die Blicke. Schließlich entspricht der individuell erlittene Erfahrungsdruck dem durchgesetzten Akkumulationsdruck des Kapitals auf die Zeit. Es gilt, sich mit medialer Normativität in ihr zu bewegen, ohne öffentlicher Stigmatisierung ins Rohr zu schießen. Die Chance Symptom seiner selbst oder der Gesellschaft zu sein, ist größer, wenn die Menschen sich zum digitalen Avatar verpuppen. Der Seidenfaden digitaler Bild-Präsenz spinnt das Subjekt ein – es ist immer knapp im Leben; aus der Konsistenz der Timeline Schutz bildend, aber festgezurrt. Wie im Foto: eingeschlossen und fixiert.
Die Jetztpunkte dünnen aus, das Festhalten an Übergangsmomenten – also eine gemachte Erfahrung für ein aktuell neues Abbildungs-Ereignis zu benutzen: im Jetzt von Gestern zu labern – erfordert Anstrengungen, die das praktizierende Individuum als antiquiert im Beharren auf bestimmte Foto-Einstellungen erscheinen lassen. Immer wieder Selfies im Glück.
Der Versuch, ein Zeit-Versteck mittels einer digitalen Unsterblichkeit zu schaffen, wo die Erinnerungen noch sicher und unbeschnitten von gegenwärtiger Inanspruchnahme bleiben, erzeugt einen psychotischen Rückzug vor der Gegenwart in die (alte) Zeit – das Fixieren der Gegenwart als Gewesenes scheint im fotografischen Festhalten sicher vor den ungewissen Zukünften zu sein. Es kollidiert die zeitlich festgehaltene Erfahrung (das geschossene Foto) mit dem tatsächlich vorauseilenden Lebensraum des Erfahrungsträgers – als ein Kampf um Stellvertretung des Ichs mit dem fotografischen Herrn seines gestrigen Ichs. Authentizität als Adrenalin der Unmittelbarkeit ist mit dem Geist digitaler Nach-Bildungs-Versuche kaum zu machen. Die Furcht im sozialen Raum unterzugehen ist so grenzenlos wie er selbst.
Während depressiver Episoden wird die biografische Selbsteinschätzung zu vergangenen Erfahrungen von konstruierten Erinnerungen überschrieben, blockiert oder manipuliert: Selbstschutz. Die Brücken zu den realen Begebenheiten der Vergangenheit sind durch traumatische Gebäude versperrt oder nerval niedergebrannt. Das Hätte, Wäre entleert das Hier und Jetzt. Der Blick auf die eigene Geschichte ist getrübt, weil sie so grausam war, dass das beschädigte Selbst sich töten, mindestens sich abstumpfen musste, um als Undercoveragent zum Schutze des eigenen Lebens fort zu bestehen – to be alive. Die erlebte Kindheit wird durch die eskalierenden weil traumatischen Erinnerungen wieder und wieder gedemütigt – man konnte sich nicht schützen, woraus ein Ungenügen gegen sich selbst erwächst: Diese Ohnmacht hängt einem nach, im Kopf fest. Tag für Tag. Man kann kaum davon loslassen, definiert sich am erlittenen Trauma. Misserfolge werden mit den traumatischen Schwächungen „gerechtfertigt“, als würde man diese Strafe verdienen – man richtet sich in der gelernten Nichtigkeit ein. Die traumatischen Erfahrungen fressen am aktuellen Leben, halten es im triggernden Trauma fest. Die Erfahrung als Führer durch die Gegenwart hat ausgedient.
Der Brunnen der Erinnerung aus voll quellenden Schmerzen – aus ihm kann nichts Positives gezogen werden. Jeder Tropfen normative Nahrung wie Gift wabernder Wunden. Woher sollen die wirklichen Jetztpunkte enttäuschter Gefühle kommen, ohne dass das quälende Gestern bewältig, enttarnt wurde? Die Gegenwart ist von einer die Gegenwart zerstörenden Vergangenheit vollgepumpt – die erlebte Echtzeit wird am erinnerten Gestern bemessen. Fest geschraubt im Trauma.
Ich, ca. 3 Jahre alt.
Leidenschaft als eine Art menschliche Umsetzung der evolutionären Erbschaft? Mit Hilfe von Apparaten fliegend, tauchend, tötend erkennen wir uns als Tiere wieder, können uns in diesem Grenzbereich unserem Erbe stellen. In Äonen lernen wir uns als Tier von der Leidenschaft gepackt! In Augenblicken brechen wir aus kulturell normativen Fesseln aus: „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/ Genieß ich jetzt den Augenblick.“ Im Pakt mit dem Teufel oder mit technischen Prothesen können wir vielleicht endlich unsere menschliche Grenze erreichen. Nachdem die technischen Kommunikationsmittel die Leidenschaften ausbeuten halfen – nunmerh können wir jederzeit gefühlsträchtig in sozialen Medien einander anschreien, können uns in umworbenen Film-Produkten genussvoll in die dunklen Seiten unserer Leidenschaften schicken – , sind sie in die Körper hinein verlängert, sinnlich gemacht worden: Aus dem Liebesbrief an sich selbst ist die Smartwatch entwachsen – Herzfrequenz, Puls, Schweiß und Schritte zählend. Die Technik scheint spezifisch empfindsamer gegenüber unseren Sinnen. Diese körper-impliziten Prothesen verfolgen, detektieren unsere Schwächen. Sie ersetzen unser evolutionäres Training, indem sie unsere mangelnden Sinnleistungen entlasten, unser Gespür in die Cloud outsourcen. Die Abrüstung unserer Sinne wird von der technischen Entwicklung ihrer Sinn-Ersatz-Prothesen angetrieben. Wovon wir nichts zu hören vermochten, wird die elektronische Konserve Hilfestellung geben, was wir nicht mehr sehen oder sehen wollen, zeigt uns das TV.
Eine technische Naturalisierung des Menschen ist im Gange. Wenn wir bis zum Enspiel kommen, werden die Erfahrungen nur noch technisch zertifiziert: Wer nicht veröffentlicht, heißt: wer sich nicht samt seiner Selfines durch die Algorithmen bückt, hat keinen Anspruch auf soziale Existenz. Was jemand ist, verdankt er seiner Erfassung. Die digital abgelegten Erinnerungen als elektronische Konserve verdrängen die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrung: Die tatsächliche menschliche Begegnung. Wir verfügen über technische Abbildungen wie etwas klänge, aber hörten es kaum noch mit menschlichen Sinn. Ja, wir passen uns unseren Prothesen an. Wir sind Hybride – die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine sind wir selbst. Für diesen Menschen entspinnt sich aus dem Naturereignis seiner ureigensten Wahrnehmung (die evolutionären Sinne, wie das Riechen, Schmecken) ein Abhängigkeitsverhältnis zu elektronischen Vermittlungsprothesen. Von da an ist das Laubgeräusch und Vögel wimmelnde Luft eine zu kaufende Serviceleistung. Die Prothese ist zum Fuß gewachsen, der endlich funktioniert. Freiheit als technische Verlängerung des Körpers begriffen.
Von den Pfützen auf den Gewitterregen schließen, von den Inseln aufs Land; von dem wenigen Licht im Tunnel auf den Tag, das Ende der Arbeit, lodernde Barrikaden. Das Positive in den Resten, aus dem Verschwinden das Wiederkommen lesen, aus den Zeichen die Welt – wie Blake (in „Auguries of Innocence“):
To see the World in a Grain of Sand,
And a Heaven in a Wild Flower,
Hold Infinity in the Palm of your Hand,
And Eternity in an Hour.
(Die Welt sehn in einem Körnchen Sand,
Den Himmel in einem Blütenrand,
Die Unendlichkeit halten in der Hand,
Die Ewigkeit in einer Stund.)
Der widerständige Vorgang des Ichs zur Welt, als ein Rückzug zum (künstlerischen) Menschen selbst gefasst, ist notwendig zu verteidigen und zu bestreiten. Das menschliche Bedürfnis nach natürlicher Anschauung fordert sich selbst heraus: Der Mensch selbst ein „Naturwesen“ zerstört in summa die menschliche Spezies die – also auch seine – Natur. Die Menschen provozieren den Bruch mit ihren naturhaften Kontexten, in denen sie sich vorfinden und abfinden müssen, indem sie sie und sich verbrauchen. Es ist der Widerspruch zwischen zerstörerischen Produktionsprozessen und den in ihnen hergestellten Produkten als versprochene Genüsse. Produktgegenstände scheinen so allgegenwärtig das menschliche Produzieren als Normalität zu spiegeln, dass andere Lebenszusammenhänge scheinbar außerhalb der Produktionspraxis stehen. Die Fratze des Begehrens hat das beworbene Produkt übernommen. Der Augenblick des Kaufs entschädigt für die Bewusstseinsstarre im Produktionsprozess. Das Schöne wird im Besitz korrumpiert und stellt darin eine Seite des menschlichen Verhältnisses zur Welt dar. Es ist klar, dass die Erzeugung von Gegenwart im Bemächtigungsapparat der kapitalistischen Produktion die Entwicklung des Neuen, Zukünftigen sich schubweise als Konservatives, Haltendes auszudrücken sucht. Die Fortschrittsfloskel der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft ist auf den Kampf um die Welt so wie sie ist – mit vorhandenen Produkten – eingeschränkt. Die Beschränkung auf das vorhandene Produkt-Glück führt zur Beherrschung oder Einschränkung der Beteiligten. Die produktive Beherrschung von Wirklichkeit, Menschen und der Natur kann nur mit der Beherrschung der Produktion durchgesetzt werden: Die auferlegte Beschränkung ist wieder in den Produkten der Produktion zu finden.
Die wechselseitige Begrenzung in den Strukturen und Funktionen der Lebensbereiche oder deren Auflösung durch das stetig drohende produktmächtige Unterbrechen, Auflösen oder durch das Arbeitsverhältnis bereitet den Boden, um aus dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Gegenstand der Betrachtung (Produkt) und Betrachter einen Wechsel des Bewusstseins darüber herauszuziehen. Die Weltverhältnisse schlagen bis zum individuellen Arbeitsverhältnis durch. Alles hängt mit Allen zusammen. Jedes Produkt ist Ableitung von einem anderem. Wenn das bewusst ist, wird es schwer, sich in der jeweiligen Arbeits-Praxis noch selbstgefällig einzurichten. Der Entscheidungsraum des mit dieser Erkenntnis begabten Wesens wird sich vergrößern.
Dieser erarbeitete und durch Arbeit provozierte Entscheidungsraum ist ein Korrektiv zur bloßen physischen Lebensbewegung, verzögert den egoistischen Zufluss aufs menschliche Leben und setzt als Erkenntnis den auf das Produkt orientierten Verkehr in eine menschliche – ethische – Gangart um. Sei es der losgetretene Verrat gegen die Zeit, der Stillstand entzündet am Schönen, als eine menschliche Verzögerung zu sich selbst.
Das-durch-die-Orte-bewegt-werden in Autos, in virtuellen Internet-Räumen, durch technisch neue Ordnungen und Ortungen, Produkte, Produktionsweisen löst die bisherigen Erfahrungspunkte des Menschen auf. Die Chance liegt also in der Kreation neuer Ordnungen und Ortungen, eigenmächtiger Erfahrungspunkte – ohne das sie die Gestalt warenförmiger Produkte annehmen. Das revolutionäre Reflektieren ist der Wahrnehmung näher als den Produkten. Die Philosophen können nicht die Welt verändern.
Der Anspruch auf ethisch-ästhetisches Verhalten – verlangsamt die Gegenwart zugunsten der Zukunft, bis man sie als Versprechen nicht mehr braucht, denn der Anspruch kann nur innerhalb gegenwärtigen Handelns gegen das gegenwärtige Verhältnisse gesetzt werden.
Das Sein eines angeschauten Bildes an der Wand als wahrgenommene Erscheinung, als sinnlicher Eindruck ist der Zusammenschluss des Eindrucks des Beobachters mit dem wahrgenommenen Ausdruck des Bildes. Der schöne Augenblick ist als Paarung von Bild und Betrachter zu verstehen.
Betrachtung als unendliche Implosion von beobachteten Gegenstand und Beobachter gedacht: Um jegliche Formen eines Bildes zu identifizieren, herauszureißen, muss der Fluss der Formen im Betrachten – für die Zeit des Betrachtens – angehalten werden. Jede gefundene Form, die aus der eigenen Beobachtung herausgeschälte Differenz von Ich und Gegenstand, Beobachter und Beobachtetem – was nichts anderes ist als die erkannte Differenz zum eigenen identitären Begehren in Form einer Form – ist konstitutiv für den Beobachter und für folgende Beobachtungen. Die entdeckten Differenzen der Formen als Verhältnisse der Formen zueinander als eigenen Trennungsprozess von (formalen) Erwartungen der Beobachtung zu beobachten, wahrzunehmen, ist konstitutiv für den Betrachter wie für das Kunstwerk. Im Moment des Wahrnehmens wird das Wahrgenommene zum „Stillstand“ gebracht. Das Wahrnehmen eines Wahrnehmungsgegenstandes setzt dessen relative Ruhe, Starre bzw. Fixierung (im Sinne einer fixierten Erinnerung: als nervale Gestalt) voraus oder versetzt ihn im Wahrnehmungsakt in diese. Es hat „eine von Spannung gesättigte Konstellation erreicht“.
So kann der Betrachter durch das Verweilen vor dem Bild nicht nur seinen Wahrnehmungsraum vergrößern, sich in eine Wahrnehmungsstarre heben – er erarbeitet sich damit auch die Möglichkeit, sich gegen seine bisherigen, alltäglichen Zeitläufe, Zweckverbindungen zu setzen, indem er sie und sich ihnen aus setzt. Ich stelle mich dem Problem ‚X‘, indem ich es auseinander nehme, in seine Formenteile differenziere, die Differenzen aus mir heraus setze, sie und mich ihnen aussetze.
Verweile doch, du bist so schön – die Fixierung der Wahrnehmung im Angesicht der Schönheit: Der Moment des schönen Empfindens. Die Schönheit als Verräterin der Normalität – sie irritiert sie – und zugleich Befreierin des Menschen von seiner gemeinen, ordinären Gegenwart. Die Schönheit ist Bremse seines Flusses. Vor ihr kommt er ins Stehen, Verweilen – die Nerven sind außer sich, sind getroffen, tatsächlich erfasst in ihrer Gestalt. Die Identifikation mit dem schönen Gegenstand als das identifikatorisch, evolutionär abgestellte Wahrnehmen oder als das konzentrierte Eingehen aufs Objekt interpretiert, kommt einer Interruption des betrachtenden Menschen gleich, als eine Unterbrechung des Flusses, eine Art Arretierung? Die Arretierung des Betrachters vor der Schönheit eines Kunstwerks, erzeugt einen Formenraum im Betrachter selbst: Einen Verkehr zwischen Nervengestalten und Formgestalten. Das ist schön, wenn es passiert – weil es passiert.
Das Stehen vor einer Entschiedenheit, etwas zu teilen, um mit dem entschiedenen Teil weiter zu gehen als unendliche Verzögerung, eine Entscheidung zu treffen. Das Teilungsparadoxon von Zenon von Elea weist auf eine psychologische Hemmung hin, etwas nicht zu tun, weil die Teile immer kleiner werden. Um sich für ein Ziel zu entscheiden, wäre es da nicht gut zu wissen, welche Hindernisse auf dem Weg liegen, was an Unvorhergesehenem passieren mag? Also die Anhäufung von möglichst vielen Voraussetzungen, um gewissenhaft eine Entscheidung zu treffen, bleibt im Anhäufen der Voraussetzungen stecken.
Wenn es heißt, eine Entscheidung herbeiführen, also einen Punkt festzulegen von dem alles weitere abhängt oder: abhängig gemacht wird – als wäre er mit einer eigenen Vorsehung betraut –, bedeutet das nicht, Gewissheit über einen Weg (Struktur, Feld) zu haben, auf welchem man sich bereits befindet? Sind hinreichend Informationen (Selektionskriterien) vorhanden? Wann jemals sind sie hinreichend, wo wir doch die unzähligen Umstände bis zum Ergebnis der Entscheidung nicht kontrollieren können? Das Forcieren eines bestimmten Qualitätswechsels – etwas zu scheiden vom anderen –, um eine Differenzierung anzuwenden (eine Entscheidung zu treffen), triebe doch erst in das hinein, woraus entschieden werden soll und worüber die Entscheidung erst noch tragen soll?
Das Vor-der-Entscheidung-stehen spürt das zu Grunde liegende (notwendige) Formalisierungs-Material auf oder lässt es wuchern. So sind Entscheidungen Produktionsstätten neuer Formen, Konstrukte. Vor der Entscheidung würde man doch genau das wissen wollen, worauf man sich durch die Entscheidung einlässt? Je mehr man vorher in Betracht zieht, um überhaupt entscheiden zu können, hat dieses Entscheiden wollen längst einen Formalisierungsvorgang in Bewegung gesetzt. Erst das Entscheiden wollen setzt Formalisierungen – also die Produktion von formalen Kriterien zur selektiven Auswahl der Entscheidungsparameter – in Gang. Die Produktion von formalen Eventualitäten droht, sich in unendlich scheinende Wenn-Dann-Details zu verlieren, denn man weiß gegen die eigene Angst nie genug: oder man setzt sich mit brauchbaren Annahmen über sie hinweg und die Zukunft in Gang. A priori.
©Hans-Georg Köhler, Navigator, 2005