199, Betrachtung in einsamer Form
Das, was der Betrachter in einem Kunstwerk sieht oder in Betrachtung zieht, wird im Prozess hin- und hergehender Sinn- und Formereignisse stetig neu vermischt, entzogen, verändert, gegen andere Formen vorenthalten: es gibt keine objektiv gültige Bestätigung, keine fest gezurrte wie unbewegliche Form, jedoch jeweils individuelle Entscheidungen der Formbetrachtung oder des Interesses der Formbildung. Der Betrachtende oszilliert in einer Beziehung zwischen Objekt-Konsum und Selbst-Bildung.1Vgl. Achille Bonito Oliva, in seinem Statement: Gegen die Einsamkeit der Objekte, Seite 66, in: Arte povera, Manifeste, Statements, Kritiken, Hrsg. Nike Bätzner, Verlag der Kunst Dresden, Basel 1995 Er bewegt sich eingedenk seiner körperlich-physischen Abstände defizität zum Betrachtungsgegenstand, stets bleibt die sinnlich ergreifbare Form ein fremdes Gebilde: sie ist nicht sein. Wiederholt erfasst er die Form, gewinnt ein Gefühl – und verliert es wieder. Er holt die Form und sich über das beständige Betrachten ein – als Beobachter 2. Ordnung. Er muss sich auf sich selbst verlassen und erlangt keine Absolution vom betrachteten Gegenstand.
In dieser Weise produziert das Kunstwerk ein Alleinsein des Betrachters: Als intimer Beobachtungsdialog zwischen Kunstwerk (Formereignis) und sinnlicher Aufzeichnung des Beobachters. Er wird zur Abwesenheit mit dem Kunstwerk gezwungen, manchmal durch die vom Kunstwerk auf ihn erzeugte Differenz in Form sogenannten Unverständnisses, Nichtverstehens, vielleicht auch durch die „spröde Form“. In bewusster Nähe zur Differenz verortet sich der Betrachter zwischen Kunstwerk und in sich selbst. Wenn er dazu bereit ist.