3, Koordinaten

Ich bereite mich täglich und allseitig darauf vor, aufzugeben. Frei zu sein.

Die Auflösung und Rekonstituierung gesellschaftlicher Bedingungen des erzwungenen persönlich zu leisten­den Arbeitseinsatzes führt zu einer Art Netzwerk-Biographismus, in dem der Blickkontakt zum Link einer anderen Person zur Funktionale für den potentiellen Job mutiert und der geschichtsträchtige Begriff der Arbeit zur authentischen Performance hochgejubelt wie verharmlost wird. Schicksal ist eine persönliche Angelegenheit geworden. Nur die Instrumentalisierung des eigenen Lebens ohne fremdbestimmten Utopieschleim ver­spricht eine verlässliche Fiktionalisierung. Storyline. Das sich mit seinem Lebensentwurf konfrontierende Individuum – wenn es einen hat – sieht sich der Forderung ausgesetzt, Tabula rasa zu machen, um sich selbst zu finden: Am besten im Arbeitsprozess irgendeiner Firma, d. h. inklusive als Herr und Knecht seiner selbst sich zu verfolgen. Die unterstellte Authentizität im Arbeitsprozess ist eine ästhetisch bemäntelte Dienstbarkeit. Die dem Individuum eingepresste Verantwortung für all seine Lebenslagen, mündet in seiner angestrengten Suche nach der richtigen (Entscheidung nach) Eingliederung. Der Zwang zur Freiheit fordert ihren Tribut. Die gesellschaftlich funktionalisierte Berufswahl schiebt sich als identifikatorische Fratze über das einstige Lächeln jugendlichen Leichtsinns. Diesem Verständnis des Schicksalsbegriffs zu folgen, heißt, seines Glückes Schmied zu sein. Doch das Eisen Subjektivation gehört ihm nicht. Sich selbst als von sich verur­sacht zu betrachten und sich nur durch sich selbst als verantwortlich zu halten, ist in vielfältiger Ratgeberliteratur Leitfaden zum Glück und wird neoliberal vorausgesetzt. Das Subjekt erschöpft sich in der Anstrengung, ein Subjekt eigener Prädikation zu werden. Ganz und gar zu sich selbst zu kommen, ist Bedingung, vor den Anderen da zu sein. Aber: „Sich befreien macht nervös, befreit sein depressiv.“1Alain Ehrenberg, in: Das erschöpfte Selbst, stw Seite 67Immer wieder mit sich zu beginnen, bedeutet, sich Felder von Möglichkeiten zu erschließen, heißt, sich der Ohnmacht über die Möglichkeiten des eigenen Beginnens/ Scheiterns gewahr zu sein. Der propagierte Common Sense lautet, sich der selbstverwirklichenden Eigenverantwortung zu stellen und als Verursacher des eigenen Lebensschicksals sich zu formulieren und darzustellen. Ohne kommu­nikativen Netzwerk-Anschluss mit sich selbst auszukommen, bleibt demjenigen Individuum vorbehalten, das sich der Mimikry gesellschaftlicher Zwänge nicht unterwirft und der Frage nach seiner Verwertung ausweicht. Das solipsistische Machtphantasma einer individuellen „Strategie“ des Künstlers zur Schicksalsbe­mächtigung, wie es ihm im von Konkurrenz bestimmten Kunstbetrieb simuliert und parasitär empfohlen wird, ist zu den Akten gelegt. Längst bewegt das Subjekt sich auf sich zu als ein gegen sich selbst gefallener Gott. Es ist nur noch cogito, aber selbstreferentiell, denn das Zweifeln geht nicht über den Zweifelnden hinaus. Es beschäftigt nicht die Welt mit seinem Problem – wenn, dann künstlerisch oder als medizinisch anerkanntes Dilemma.
Ein Acker für psychotische und – in vorauseilender Affirmation prophezeiter Funktion gesellschaft­lichen Ankommens – meist paranoide Ernten. Und was bedeutet künstlerische Praxis? Auf welches Wissen kann das praktizierende Subjekt sich beziehen, von wem wird es geschliffen, in welchen Systemebenen operiert es überhaupt? Soll die Lehre zur Kunst als „Fertig-zur-Karriere-Sein“ verstanden werden, das sich an der Schallmauer der Existenz mit ihren zivilisatorischen Erfordernissen abstumpft – „als ständigen lebenslänglichen Prozess der Angleichung an die Verhältnisse“?2Brecht „Mißverständnisse über das Lehrstück“, GBF Ausgabe, Band 22, 1993 Als ein individuell auszuagierendes Unbehagen, dem man nicht standhält und dem doch ästhetische Ereignisse geliefert werden, weil am Ende der Tage die erpressten Ausdrucksformen als Kunst­werke ohne lebendigen Autor wieder anschlussfähig sind? Ist die ästhetische Produktion eine Art Affirmationsprozedur für widerständige Probanden in der Leistungsgesellschaft? Oder ist sie indi­viduelles Spaltmaterial auf dem Anpassung steht? Auf den Fahnen steht noch: „Dieses Wissen soll als implizites, habitualisiertes, inkorporiertes und prozessorientiertes Wissen untersucht werden. Im Zusammenspiel kunst -und kulturwissenschaftlicher, medienwissenschaftlicher, philosophi­scher, pädagogischer und ingenieurwissenschaftlicher Disziplinen geht es um die zentrale Frage, wie künstlerisches Wissen entsteht, sich artikuliert und legitimiert.“3Aus einer Stellenausschreibung der Universität der Künste Berlin in der Wochenzeitung Die Zeit vom 8.12.2011 Wie in den Wind geschrieben. „Das Thema der Kunst ist, das die Welt aus den Fugen ist“ (Brecht) und ich den Tag überstehe.
Das Individuum implodiert in dieser Gespaltenheit zum SubjektObjekt seiner Geschichte. – Mit dem mehr oder weniger ästhetischen Versuch, gegen die Anforderungen zivilisatorischer Realität zu opponieren (warum eigentlich?) und durch die Ablehnung  regressiver Lebenslenkung sucht es eine eigene Realität in Gang zu setzen. Aber es ist an die operative Grenze seiner arbeitsintensiven Systemebene gebun­den und reproduziert sie stetig.4 vgl. Luhmann, in: Soziale Systeme, Seite 50 ff.Der Mensch kann sein Schicksal nur mit den anderen oder: gegen sich stricken. Denn: „Der Mensch verändert sich und lebt in einem sich verändernden Bezugsrahmen in einer Welt, die fortlaufend von ihm erzeugt und transformiert wird.“5Humberto R. Maturana, in: Biologie der Realität, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1502, Frankfurt a. Main 2000, Seite 91, „Oder mit anderen Worten, jedes lebende System, wie und wo es in jedem Augenblick auch sei, ist der Knotenpunkt eines Netzwerks ko-ontogenetischer Driften, das notwendig alle Entitäten einschließt, mit denen es in dem Bereich interagiert, in dem es vom Beobachter in siner Lebenspraxies hervorgebracht wird.“, ebenda, Seite 185„Das Selbst entsteht in dieser Unterscheidung zusammen mit der Unterscheidung des Anderen, des Mitmenschen.“6Humberto R. Maturana, in: Biologie der Realität, Seite 276Selbstermächtigung heißt, sich selbst als Teil dieses Bezugsrahmens zu erkennen, als Teil beobachten zu können und sich – in Sprache – als Unterschied zu anderen Teilen (Menschen) zu erzeugen. Das ist Kreativität und mündet in Freiheit,7Vgl. Humberto R. Maturana, in: Biologie der Realität, Seite 143die das egoistisch-bürgerliche Subjekt nur gegen sich durch­setzen kann, indem es seine Umwelt korrumpiert. Der Egoist frisst sich selbst oder ist Masochist geworden. Ohne die Akzeptanz des Eigewobenseins fällt der Mensch auseinander. Er würde sich ständig gegen sich dividuallisieren, dauernd seine Möglichkeiten des Scheiterns vermehren, die er nicht im Zaum halten kann, weil die Immanenz seines (ästhetischen) Handelns die Differenz zur ökonomischen Ebene als Bedingung seiner Möglichkeiten nicht überbrücken kann. Denn stete Anpassung als Selektionszwang der Möglichkeiten lässt sie verschwinden.8vgl. Niklas Luhmann, in: Soziale Systeme, Suhrkamp, stw 666, Seite 56 „Komplexe Systeme müssen sich nicht nur an ihre Umwelt, sie müssen sich auch an ihre eigene Komplexität anpassen. Sie müssen mit internen Unwahrscheinlichkeiten und Unzulänglichkeiten zurechtkommen. Sie müssen Einrichtungen entwickeln, die genau darauf aufbauen, etwa Einrichtungen, die abweichendes Verhalten reduzieren, das erst dadurch möglich wird, dass es dominierende Grundstrukturen gibt. Komplexe Systeme sind mithin zur Selbstanpassung gezwungen, und zwar in dem Doppelsinne einer eigenen Anpassung an die eigene Komplexität. Nur so ist zu erklären, dass Systeme den Veränderungen ihrer Umwelt nicht bruchlos folgen können, sondern auch andere Gesichtspunkte der Anpassung berücksichtigen müssen und letztlich an Selbstanpassung zu Grunde gehen“Determiniert und auto­nom wie ein Nichts, aber lange noch nicht formlos.9vgl. Christoph Menke, in: Brauchen wir Kunst? Und wenn ja, wozu?, in: Die Zeit, 14.6.2012 Nr. 25., Text zur documenta 13Denn dort, wo das bürgerliche Subjekt ausgelöscht wird, kann es beginnen, kann es frei sich als ästhetischer Mensch formulieren. Hier – im Spiel der Formen aufgegebener Formen – hat es die Chance, sich zu überwinden. Alles was dieses Subjekt dem Objekt zuschreibt, wo es sich also selber zur Physis, zum Rohstoff seiner eigenen sinnlichen Verkörperung in die eigenen Ausdrucksweisen hinein zwingt, treibt seine Spaltung voran.

Berlinde de Bruyckere10Berlinde de Bruyckere, Schmerzensmann V, 2006, Foto: Mirjam Devriendt

Dort unten, so befreit von den Instanzen des definierten kulturellen Prozesses ist es zerstört (als bürgerliches Subjekt) und befreit gleichermaßen, so dass es sich zum Material seiner Aus­einandersetzung machen bzw. stilisieren kann. Die permanent aufgezwungene Flexibilisierung zwischen den realen Anforderungen des Überlebens führt zur Entäußerung des eigenen körper­lichen Materials. Dieses gefangene Subjekt kämpft mit seinen Verlusten gegen sich, gegen seine Verwertung. Es befindet sich in dem Paradox, einerseits, die selbstbehauptete humane Verzögerung gegen die Erkaltung zweckbestimmter Verdinglichung aufrecht zu erhalten – also gegen die Leugnung „das die Dinge dieser Welt von Menschen gemachte Dinge, Ergebnisse von Subjektivität sind“11Diederichsen, in: Eigenblutdoping, Seite 207 künstlerisch zu arbeiten und anderseits, die schützenswerten – künstlerisch ergiebigen – Objekte menschlich zu überformen. Es ist dazu verurteilt, sich einer selbst gewählten Bestimmung zuzuführen und sich das einwachsende gesellschaftliche Schamhaar heraus zu reißen. Dieses Individuum erschöpft sich in der Verpflichtung, es selbst werden zu müssen.12Vgl. Alain Ehrenberg, in: Das erschöpfte Selbst, Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, stw, Seite 15 Gegen den demokratischen Bunker der Realität. Denn der Realismus gewöhnt uns an die Niederlage.
Das Subjekt hat keine Wahl, außer sich selbst zu treffen. Diese Auserwähltheit gegen sich selbst ermächtigt es, sich selbst am Schlawitchen zu packen. Die Beobachtungen des ästhetisch arbeitenden Subjekts sind auf seinen eigenen Schleim angewiesen. Das Verhältnis zur Welt ist in ein Verhalten zu sich selbst aufgelöst. Es hat sich sein Weltverhältnis als Verhalten zu sich angeeignet. Im Fest­haltegriff nach dem Pfahl, das sein Fleisch ist, muss es ihn in sich hinein rammen und sein ihm nicht mögliches Weltverhältnis mit sich selbst durchspielen. Dieses Leiden als ästhetisch produktive Bestim­mung ist seine einzige Referenz. Hier kann das Leiden als Selbstgenuss fungieren.13„Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit; menschliche Wirksamkeit und menschliches Leiden, denn das Leiden, menschlich gefasst, ist ein Selbstgenuß des Menschen.“ Karl Marx, in: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Ergänzungsband Erster Teil, Schriften bis 1844, Dietz Verlag Berlin 1977, Seite 539

In der Künstlerpersönlichkeit finden diese Paradoxien der existenziel­len Spaltung zur Selbstkonstruktion ein produktives Umfeld. Die Voraussetzungen für die künstlerische Abarbeitung des Individualisierungsprozesses erfüllen ebenso ihr Scheitern.14 „…Alain Ehrenberg ist eine solche soziologische Zeitdiagnose gelungen; darin wird die rapide Zunahme von depressiven Erkrankungen als das paradoxe Resultat eines sozialen Individualisierungsprozesses gedeutet, der die Subjekte dadurch, dass er sie aus traditionellen Bindungen und Abhängigkeiten befreit, im wachsenden Maße daran scheitern läßt, aus eigenen Antrieben und in vollkommener Selbstverantwortung zu psychischer Stabilität sowie sozialen Ansehen zu gelangen.“ Axel Honneth, Vorwort zu Alain Ehrenberg, in: Das erschöpfte Selbst, Seite 8Die Be­dingungen künstlerischer Arbeit sind realistisch, die Möglichkeiten humaner Verwertung utopisch. Aufgrund des Mangels an Mitteln und Macht führt das künstlerische Begehren – eines sich zur Selbstbestimmung seiner Möglichkeiten ermächtigenden Menschen – in die (ästhetische) Selbstrepräsentation. Hier kann die Künstlerperson seine Konfliktfelder (als Prozesse der Selek­tion von Möglichkeiten) – es sind die gesucht erlittenen Erfahrungsvorsprünge zur verrückten Lebenspraxis – als sinnliches Material vor sich stellen und (ästhetisch) markieren, aussprechen. Spielerisch. Zuerst in der ästhetisch gesuchten Form kann das Material als Differenzpunkt in Er­scheinung treten – als eine Nähe in distanziertester Form. Bildnerisch. Als Re-präsentation von irgendwas, rein äußerlich, formell, um den Schauplatz dieses Erkenntniskrieges als Form der Differenzie­rung nach außen abzuleiten. In der Beschäftigung mit irgendwelchen Dingen, Phänomenen, Objekten kann das Subjekt sich als Beobachtungs-Organ seiner Wahrnehmungen, als ein sich gestaltendes Subjekt noch in Form bringen, sich am Gesehenen seinen Augen erklären und sich in dieser Gegen-über-Orientierung konstituieren. In der Kunst – im Operieren mit Formen, das wiederrum zum Medium der Form wird – kann das Individuum mit sich ver­bunden bleiben, weil es sich eigenmächtig von sich selbst trennen kann.15Vgl. Alain Ehrenberg, in: Das erschöpfte Selbst, Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, stw, Seite 22 Es kann sich selbst auf eine Karte setzen, denn: „Leiden können ist die verwirklichte Utopie.“16Carl Hegemann, in: Plädoyer für eine unglückliche Liebe, Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005, Hrgb. Sandra Umathum, Verlag Theater der Zeit, 2010, Seite 103 In der gezeigten Form kann sich das bürgerliche Individuum zeigend, noch beobachtbar behaupten: Wenn es aus der Differenz zu den nicht gewollten Wegen, ausgeschlossenen Möglichkeiten (formale) Unterscheidungen pro­duzieren kann. Symbolisch kann es noch repräsentiert und kommuniziert werden. Es kann seine Differenz nur als Differenz, die Form geworden ist, zum Ausdruck bringen. Angekommen in der erstarrenden Selbstbehauptung der Differenz, die als fixierte Unterscheidungen im Kunstwerk Formen angenommen hat, kann das Kunstwerk (als Ausdruck von Formen) sich zur Schau stellen und kommuniziert werden. Dort, wo das Subjekt seine Differenz gegen die Umwelt im Kunstwerk in Stellung oder als Form zum Ausdruck bringt, setzt es sich der Relativierung zu bloß anderen Formen der Differenz aus. Die Formen, als Ausdrücke von Unterschieden (, die Unterschiede deklarieren) halten Einzug, trotz dass Künstler sie einreißen und sich über sie stülpen. Die Entscheidung als Künstler der Welt zu begegnen oder sich ihr ästhetisch einzuverleiben ist ein symbolischer Akt der Freiheit, denn die Inszenierung von Möglichkeiten wird als Formgebrauch im Kunstwerk offen gehalten. Sich selber als Operator der Bedingungen seiner (formalen) Möglichkeiten zu erachten – so lang es eben geht – ist das Befreiende in der künstlerischen Arbeit. Nicht weil man frei ist, wird man Künstler, sondern man wird Künstler (arbeitet, lebt künstlerisch), um sich zu befreien.

Es existiert ein derartig überpositivierter Verwertungsprozess in der bürgerlichen Gesellschaft, dass ich im Umkehrschluss vielmehr von einer Zwangsläufigkeit zum ästhetischen Handeln spreche, denn dies ermöglicht, aus den von Verwertung und Vernutzung durchdrungenen Arbeits- und Kommunikationszusammenhängen zu entkommen (und in diesem Entzug sich künstlerisch einzunisten). Wenn die Existenz von Möglichkeiten zur Bedingung für das eigene Leben ausge­macht wird und nur im künstlerischen Handeln vollführbar als Differenzierung zur Umwelt in Form gebracht, also ins Kunstwerk geschleust werden kann, dann muss man Künstler werden. Die ästhetisch kollaborierten Selbstrepräsentationen sind nichts anderes als in bunte Luftballons versteckte und aufgeführte Echos dieser Zwangslage. Die Verortung der Kunstwerke wird zunehmend von Kommunikationsstrategien und/oder von prekären Sprachlosigkeiten geprägt. Wie viel Idiotismus als Bewegungsreserve muss aufgebracht werden, um sich mit ästhetischer Expres­sion dem gesellschaftlichen Druck entgegen zu stellen oder zu entziehen, obgleich alles Ästhetische nach Wahrgenommenwerden schreit und das Kunstwerk als Ware der ökonomischen Systemschleuse übergeben, d. h. verkauft werden muss?17vgl. Luhmann, in: Schriften zur Literatur und KunstDie immanente ästhetische Selektion von Formen in der Kunst, also das in Formen auszudrückende Unterscheidungsvermögen von Formen, ist an der ökonomischen Systemschleuse anderen, marktförmigen Selektionskriterien ausgesetzt, um ökonomisch anschlussfähig zu sein, um als Künstler sein Leben zu erhalten. Die artifizielle Larve vertrocknet im fein gesponnenen Kokon von Marketingstrategien und wähnt sich dem kommenden Schmetterlingsflügelschlag nahe. Aber die Seidenfäden sind Stahlseile. Die ästhetische Produktion des Subjekts ist in ein ambivalentes Ver­hältnis eingeschweißt. Denn das individuelle Bedürfnis nach ästhetisch-sinnlicher Konstruktion von Wirklichkeit, nach einer durch das Individuum selbst inspirierten sprachlichen Umsetzung seines Erlebens (Ver-wirklichung) – was sich anfühlt wie die Verwechslung von Freiheit und multioptio­nalen Wahlmöglichkeiten – wird in verschiedenen gesellschaftlich Bereichen bereits zum normativen Zwang ästhetischer Selbstrepräsentation. Das ist schon alles erodiert. Das Wahrgenommenwerden schiebt sich vor die Expression, das Medium über die Message, das Percipi steht vor Partizipation. Die ästhetische Überproduktion, die der anwachsenden Komplexität im System „Kunst“ Rechnung trägt, zeigt sich als massenhafter, ästhetisch deklarierter Rückzug der künstlerisch sich formierenden Subjekte aus dem bürgerlichen Gesellschaftskörper an – und: sie können als Selbstvernichtungsspezialisten brückenschlagend für die andere, populäre Seite der Gesellschaft verwertet werden. Die Entwicklung von Formen wird durch diese Annektion des Formengebrauchs eingeschränkt. Sinnlich­keit impliziert keine Rücksicht mehr. Der Anpassungsdruck durch dieses System, das im Kunstmarkt ausagiert wird, vereinnahmt die künstlerische Daseins-Form zur Form des Kunst­handels. Aller Stil wird zum Marktwert bis zum Schlaf unter der Brücke. Doch gegen den Handel das eigene Lebensrecht zu formulieren, ist die eigenwillig freiwillige Bewegung in dieses System hinein und spiegelt in der prekären Kunstproduktion die Zersplitterung der Gesellschaft wider. „Die bürgerliche Ästhetik mit ihrer Trennung von Ästhetischem und Rationalem lässt sich dann als ein Legitimationsdiskurs der Kunst interpretieren, der diese Aufspaltung förderte, um die Eigen­ständigkeit des Künstlerischen zu sichern.“18Andreas Reckwitz, in: Die Erfindung der Kreativität – zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Suhrkamp stw 1995, 2012, Seite 33 Diese Eigenständigkeit wird zunehmend durch die Übernahme ästhetischer Kategorien in andere Produktionsprozesse verwischt. Die Trennung von Ästhetischem und Rationalem in dem Sinn, dass sie entweder als Defizit des Ästhetischen am Rationalen oder des Rationalen am Ästhetischen auftritt, wird durch die ästhetisch bestimmte Kontextualisierung der Kommunikation zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wieder aufgehoben. Im Schlund operativer Kommunikationstechniken gefangen. Stichworte hierfür sind: Außendarstellung (von Politik, von Unternehmen) und Marketing.
Die ästhetische Inszenierung der Jobs, der Arbeit, der Arbeitsplätze steht im Zusammenhang mit der ästhetischen Fiktionalisierung des Marktes, der Politik, der Massenmedien und wird im Begriff der Kreativität positiv besetzt. Sie ist eine ambivalente Maske in der gesellschaftlichen Kommunikation geworden und kulminiert in einem Schnittpunkt von künstlerischer Produktion und artifizieller Selbstpräsentation, in dem die einstigen Trennungen nun einen Zusammenhang ästhetischer Ver­bindlichkeit für alle Teilnehmer bilden. Künstler wie berufliche Bewerber sind angehalten, Selbst-Marketing zu machen und die Marketingabteilungen in Unternehmen oder Pressestellen sind mit ästhetischem Kalkül darum bemüht, Aufmerksamkeit zu generieren.
Die ästhetisierte Selbstrepräsentation des Subjekts in verschiedenen funktionalen Bereichen (Job, Familie, Freizeit, Politik, Medien etc.) trifft wiederum auf unterschiedliche Beschreibungswinkel und wird als übergreifendes, ästhetisch verbindliches Gebaren dieser Bereiche umfunktioniert: sie kann als ästhetisches Image der Person auftreten und Ebenen übergreifend agieren. Die imperative Forderung nach biografischer Inszenierung der Job-Vita als Stütze der Selbstdarstellung nagelt das Subjekt an sein narzisstisches Konterfei. Es schlägt sich gegen sich durch bis zur Selbstverleugnung – zugunsten der erhofften Festanstellung. Die Theatralisierung des Lebens verwischt dessen privaten Bedingungen. Die Auseinandersetzung um ästhetisch definierte Formen, um Komplexität in der Kunst – dass also stetig neue Möglichkeiten von Formen entstehen, wird in einen Wettbewerb um ökonomische Aufmerksamkeit gezerrt und zum Marktgeschehen abgeführt. Die Individuen werden zu Individualisten aufgeblasen, protegiert, jedoch nicht um ‚Ich‘ zu sagen, sondern um sie als Konkurrenten gegeneinander zu differenzieren und um aus der künstlerisch geformten Gegenständlichkeit der Kunstwerke ein personales Produkt zu machen. Dann ist es für den Markt anschlussfähig. Die normative Identität entsteht hier als Dif­ferenz zur Konkurrenz. Das geht vom Image über die Marke und wird zur Karikatur vollstreckt.19„Personen haben Sachen in weiten Teilen des gesellschaftlichen Austauschs ersetzt. Biographien, Klatsch, Personalisierung ersetzen Argumente und Begriffe.“ Diederichsen, in: Eigenblutdoping, Seite 197Die ästhetische Codierung des Einzelnen zur warenförmigen Person beschreibt die paradoxe Entsprachlichung des Subjekts am Subjekt selber: Subjekte werden als stilisierte Botschaften, funktionelle Gegenstände kommuniziert. Das Image ist der Pilz über allem schönen farbigen Schleim.

Die feigenblättrige Ästhetisierung der Kommunikation der Selbstdarstellung von Arbeitskräften im gesellschaftlichen Produktionssystem (z. B. durch kommunikative Möglichkeiten der Vernetzung) verlängert deren produktive Ressourcen. Aber im querullanten Körper wütet es sich aus. Schreie werden zu artifiziellen Produkten überformt. So begriffen, ist die Ästhetisierung gesellschaftlicher Systeme die Folge der Entgrenzung formaler Differenzen und nicht die Demokratisierung der Teil­habe am z. B. künstlerischen Beobachtungsfeld. Artefakte werden in informative Kontexte zugunsten einer körperlich entschlackten Imagewirkung aufgelöst. Das humane Sinndefizit eines Produktes kann nunmehr mit werbeträchtigen Verschönerungen überklebt werden. Das individuelle Scheitern an der Gesellschaft dient noch als Ressource billiger Mystifizierung bis zum letzten vermalten Farbtropfen. Es lebt sich als Selbstauslöschung in Kunstwerken aus. Das Scheitern ist Ressource geworden. Aber nicht mehr im künstlerisch produktiven Sinn, sondern zum Zweck profitorientierter Marktselektion. So sehr das Individuum sich durch seinen sich selbst auf­erlegten ästhetisch bestimmten Lebensprozess einer breiten, total wirkenden Verdinglichung des gesellschaftlichen Zugriffs erwehren oder vielmehr: stellen kann, so sehr gelten seine ästhetischen Ausdrücke, Beschreibungen – im besten Fall Kunstwerke – bereits als produktverdächtig und werden vom Markt in der rationalisierten Konkurrenz dem Individuum entzogen – wenn es das bis dahin überhaupt schafft. Das, wofür das ästhetische Handeln einstehen sollte, ist als Produkt eben jenem befürchteten Dasein ausgeliefert, wogegen es einstmals sich entwickelte. Galerie ist Galeere geworden.
Und doch besteht angesichts des durch die Verwertungslogik bedrohten Lebens gerade in der ästhetischen Deklarierung des eigenen, utopielosen Lebensschreis noch die Möglichkeit, sich als ungehörtes Individuum Ausdruck und Sinn zu erkämpfen. Es ist ein von individuellen Rückzugs­gefechten geprägter bzw. inspirierter Rettungs- und Selbstbehauptungsversuch. Eine wesentliche Intention künstlerischer Phänomenologie ist es, als Künstler zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Repräsentationsgeschichte zu sein (Ressource und Werkzeug), um der drohenden Spaltung des Selbst durch die verdinglichende Objektivierungslogik des Ökosystems zu entgehen, die die Gesellschaft in der zwanghaften Versöhnung mit der Ware voran treibt. Das Künstlerprekariat entsteht aus der Ästhetisierung hoffnungsloser, aber nach Sinn suchender Bio­grafien. Das Schöne ist das, was überlebt. Etwas aus seinem Leben zu machen, was nicht auf dem Lohnzettel steht – auch wenn dafür Bier ausgeschenkt werden muss.
Die psychisch bedingten Erscheinungen solcher von Spaltungs- und Hemmungsprozessen begleiteten Existenzen sind in der psychoanalytischen Literatur sowie in den psychotischen Durchgängen des Künstlers selbst zu suchen: Das geht durch ihn durch, wie es über ihn massen­haft hinweggeht: Als sprachlich eingedampfter Wind der Selektion. Theorie!