104, phänophobisch – Kontrolle und Konspiration

Der Versuch im Beschneiden des Blickfeldes, die Eindrücke, Sensationen zu begrenzen und überschaubar in Form zu bringen, zeigt das zurück­weichende Subjekt an: es muß (sich) reduzieren, um (dran) zu bleiben, seinen Wahrnehmungsraum verkleinen, um – den Rest – beschreiben zu können. Den Überblick behalten zu wollen, geht einher mit Isolierung wie Reduzierung von Wahrnehmungsmaterial, geht hinein zur Ignoranz gegenüber dem Ausgeschlossenen und führt die Köpfe unter Eis, zwängt zur Untersicht. Übersicht erhalten zu wollen, weist auf ihr Schwinden hin. Das Beobachten scheint mit den anwachsenden Differenzen, die sich in Formen zeigen, den empirischen Fluten überfordert. Die angestrebte Übersicht zwängt das empirische Material auf die zu erlangende, möglichst formierte Sichtbreite ein: Selektion. Das zu denken, was der Andere von meinem Denken denken könnte – als eine nach oben hin geöffnete Feedbackschleife sich bedingender Kommunikation – führt zu paranoiden Zusammenschlüssen kommunikativer Kontexte. Die wirkliche Kommunikation wird zur nur vorgestellten Kommunikation aufgelöst und vom Hier und Jetzt entleert. Die Spekulation übernimmt Faktizität; ersetzt sinnliche Beeindruckung. In dieser Situation hat das Leben, das Umfeld keine Chance vom Subjekt erlebt zu werden, denn es möchte sich mittels Kontrolle gegen das, was passieren kann, schützen. (Ebenso chancenlos wäre, die Totalität sinnlicher Eindrücke insgesamt wahrnehmen zu wollen.) Bevor etwas passiert, ist es bereits in Kategorien abgelegt und sicher bewertet. Je absoluter die Forderung ans Übersicht-Behalten gestellt wird, desto beschränkender wirken die kalkulierten Erwartungen an die Ereignisse. Sie werden von Erwartungen, Vorahnungen eingeschränkt, überstülpt. Eine selbstprophezeiende Logik ist im Gang. Die Umwelt wird auf ein im Voraus festgesetztes Beschreibungsraster eingestellt.

Kontrolle
Wenn  Kontrolle organisiert werden soll, muss die Organisation kontrolliert werden, die Kontrolle organisiert usw. Die kapitalistische Paranoia hat ihre eigens produzierten Krähen im Nacken: Die Konkurrenz schläft auch nicht. Die erlangte Übersicht schneidet das Über-Sehene ab von denen, die es nicht trennen können und sich nicht der Zumutung stellen, rational zu sein. Übersicht/ Kontrolle erreichen zu wollen, wirkt auf das Kontrollierte isolierend, weil auslesend – abgesehen von der durch arbeitsteilige Spezialisierung provozierten Wahrnehmungs-Isolation der Ereignisse. Im Fluchtgang zwischen Kontrolle und deren Verlust pendelt das bezwängte Subjekt. Das Kontrollieren-Wollen wird stets von dessen Versagen, dem Verlust an Kontrolle begleitet – alles geht halt nicht. Bis man durchdreht. Der gescheiterte Versuch, in der Welt zu sein, schlägt in die Versuchung um, den Entzug von Welt auszuhalten. In der phänomeno­logischen Beschreibungswut kommt die Intention zur Sprache, durch die zunehmende Einteilung der Beschreibungswelt, d. h. durch die Konzentration auf immer mehr und kleinere Teile (Phänomenen), Zeit zu erzeugen: fest zu halten. Verweile doch! Mit dem Akt der Beschreibung, Aufenthalt in der Welt zu erlangen. heißt, sie durch stetes Beschreiben zu verlangsamen – als ästhetisches Programm. Wer beschreibt bleibt. Wenn ich etwas festhalten kann, wird es schön. Hemmung, Verlangsamung als Zeitgewinn. Verweile doch… Vielleicht ist Malerei auch ein Kontrollprogramm: das die Welt so sei, wie sie im Bild dargestellt werden konnte.

Therapie: Aufmerksamkeit
Phänomenologie als therapeutischer Aufenthalt durch das Verweilen im kleinen Bereich, an der Blüte, als Distanzversprechen gegen die Totalität – gründend auf der Angst vor dem Verlust von Welt oder von einem Ereignis, das als eine Form schließend wahr genommen werden muss. Eine erstarren machende Annäherung. Der Dialektiker zieht die Zerstörung (der Künstler: die Ästhetisierung der Zerstörung) von Wirklichkeit in Betracht, um Erfahrung machen zu können, also um für sich eine Lebensnähe zu produzieren. Die Flügel der Fliege werden rausgerissen, um sie unters Mikroskop zu legen. Man tritt in Beziehung zu sich über die Objektivation des anderen. Negative Dialektik: Die Zerstörung der Beziehungen, der Objekte verstrickt sie zu neuen Netzen, bedingt die Vergrößerung des ichigen Myzels – sprengt es von seiner Wurzel.
Das, was zum Erhalt des empirischen Materials durch seine Sichtung beitrug, um zu wissen, über wen oder was sich Übersicht stellen kann, wird im zwanghaften, weil unendlichen Bedürfnis nach Übersicht übersehen und löscht das stete Material durch dessen beständige Verkleinerung aus. In einer Art rationalisierten Zwangs-Totale wird die Welt reduziert gedacht gemacht, um sie zu regieren, planbar zu erhalten. Das ideale Reich dieser menschlichen Freiheit ist seine psychische Implosion. Diese Psyche wird von ihren Zeitgebilden bestimmt, oder lebt von ihren Bildungen, Auswüchsen und zehrt sie aus.
Phantasie als Notgeburt oder eine zu frühe. Wahnsinnsgetränkt. Sie entsteht nicht jenseits der das Subjekt umfassenden Realität, die den Körper am entgegentretenden Außen verortet, welch tolle Gedanken, sondern aufgrund der realen Beschneidungen aufs Subjekt entsteht Phantasie als selbstischer Therapieversuch. Sie überbrückt mit ihren Erfindungen abgeschnittene Areale und ist verlebendigte Mangelerscheinung, überkämpfte, kompensierte, ach ja, auch sublimierte Leerstelle. Begabung als geglückte sublimierte Wut. (Adorno) Phantasiegebilde sind ihres Ausbruchs harrende Kampfansagen gegen die Ein-Richtung der Welt. Manchmal erwächst Phantastisches aus dem Verfolgungsdruck der Alltäglichkeit und das andere Mal, diesen Druck abzuschütteln.  Phantasie arbeitet mit Bruchstücken der Wirklichkeit, ist auf die Leerstellen der Wirklichkeit angewiesen. Das ist ihr realistischer Kern. Phantasie entspringt verurteilter, unerfahrener Realitätsbereiche. – Dann stellt man sich das ganz klar vor und hat ein Bild… Der Verlust und der Gebrauch von Realitätsmacht zeigt die psychische Bewegungs­richtung an. Die Auswüchse können paranoide Grade erreichen, ob als Misstrauen, Verfolgungswahn oder sie können – mit  Unterstützung entsprechender Kapitalien – zu unternehmerischen Visionen mutieren. Audi Werbung: „Wer die Zukunft vorhersehen will, muß sie erschaffen.“

Paranoia und Kapital
Gemäß des Sinns kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die die entsprechenden medizinisch angezeigten Indikationen (Kontrollzwang, Produktgespinnste) aufheben und verwerten, dass heißt: regelrecht produzieren, liest sich das so: „Jedoch wissen wir aus der Geschichte, dass es angesichts der Fortschritte in unserer Industrie nicht lange dauert, bis andere mit ähnlichen Dingen aufwarten. Und diese grundlegende Sicht unserer Industrie zwingt uns, fortlaufend zu erneuern. Wie unser Chairman, Andy Grove, immer wieder betont: „Only the paranoid survive“, nur der Paranoide kann überleben. Folgerichtig befassen wir uns unablässig mit zukunftsträchtigen Innovationen.“1Pat Gelsinger, CEO bei Intel in der c‘ t, Zeitschrift für Computer und Technik, Seite 94, Heft 13, 2003 Ja: der paranoide Vorwärtsdrang der Flucht soll in den Rücken der Verfolger führen. Die kapitalistische Paranoia hat ihre eigens produzierten Krähen im Nacken – Die Konkurrenz schläft niemals! Die Paranoia der Verfolger schlägt in die Paranoia der Verfolgten um.

Zukunft
Die Zukunft wird modelliert über die Aussagen, die über sie getroffen werden können.
Die unternehmenslustige Phantasie oder die phantasiemächtige Produktivität der Unternehmen, die Macht der CEO‘s schlägt in Paranoia um. Die Erhaltung der Macht ist vom stets möglichen, also drohenden Verlust der Machtposition gekennzeichnet. Wo sie sich erhalten kann, wächst aus der Hydra die noch größere Erbin: Erhaltung – Vergrößerung – Vernichtung – Vergröße­rung. Die Pathologie der Macht (schläft die Konkurrenz, was hat sie vor?) erzeugt einen Verfolgungswahn, der darauf abzielt, alle Mittel einzusetzen, die mutmaßlichen Feinde zu vernichten, denn in diesen Führungs-Positionen schätzt man sich auch als Feind der anderen. Das Wort Beherrscht-Sein erhält hier den Sinn von Beherrschung – der eigenen wie der anderen Ängste. Marktbeherrschung = Angstbeherrschung. In den Regionen hoher Etagen verselbstständigt sich die Lenkung des Fahrzeugs von der Fahrt: Das Produktportfolio wie die Steigerung des Profits werden oder sind nur kurz relevant. Es geht um den Lenker, ihn festzuhalten, nicht um die Fahrt. Das es für die Konzernlenker nur ein Job ist, in dem sie ihre Ängste ausagieren, erweist sich daher als fatal, weil sie einen Lenker in der Hand haben, der große Welten lenkt. Der Angstschrei des Aktienhändlers in der 132. Etage wird hörbar für Millionen.
Aus dem Verfolgungswahn spricht das Ertapptsein eigenen Tuns. Denn die Flucht vor Verfolgung führt in sie hinein – die Paranoia der Verfolgten.

 

 

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