83, Nervenarbeit

Bei genügend starker Parallelisierung durch Wiederholung von Wahrneh­mungs-Sinnesreizen im Gehirn – als monotoner Frequenzgang der Ereignisse vorstellbar, wenn die sogenannten Nervenbahnen oft genug befahren werden – ist es im unaufhörlichen Lärm des Reiz-Flimmerns möglich, einige wenige ankommende Reize filtriert zu empfangen,  analogisch auf das Bekannte zu reduzieren. Die Empfänglichkeit für X oder Y wird gesteigert – der Weg für X und Y wird zugänglicher. Die anderen Areale treten zurück, sind leise oder werden zugunsten der neuen Wegbefestigung unterdrückt. Hierin zeigt sich die Wirkung von Drogen. Die Kanäle werden breit geschoben, geweitet, damit viele Reizsignale ankommen können – ohne (übliche) Differenzierung  ankommender Signale. Drogen verstärken nicht den Welt-Reiz, das Wahrnehmungs-Flimmern, sondern sie ermöglichen das vollständigere Durchkommen (von etwas, das sonst nicht reichte) – voll drauf sein – wenigstens aber ermöglichen sie das Ankommen der befassten, bevorzugten Welt. Die Verästlung der Verbindungen ist nicht schmerzfrei. Die Einheit von Funktion (Fähigkeit) und Funktionsbildung (Training) erfordert physiologisch eine funktionelle Einschränkung des Organs. Das Organ, die Nerven beschränken sich zugunsten der Häufigkeit eines Signals statt der Qualität – man könnte Filterung von Signalen als Wegbefestigung beschreiben. Es erwachsen Fähigkeiten in der Beschränkung von anderen Fähigkeiten (zu vielen Möglichkeiten). Im erinnerbaren Abrufen von trainierter Fähigkeit1Gregory Bateson nennt diesen Vorgang Primärprozess, vgl. Bateson in: Ökologie des Geistes, Seite 195 f ist auch die Art und Weise der ehemals erarbeiteten Einschränkung geschultert, huckepack genommen. – Das meint die Reduzierung der Sinnesschwellen (Stichwort: Sensibilisierung) ebenso wie die organische Zerstörung vorhandener Funktions-Einheiten zugunsten bestimmter (zu entwickeln­der) Vermögen. Die physische Zerstörung, Beschränkung potentieller Funktionen ermöglicht gezielte Funktions­bildung. Die Bedingung der Möglichkeit setzt hier die Reduzierung von Möglichkeiten voraus. Der nervale Ort des Trainings verkleinert, verjüngt – sensibiliert – sich mit jeder Übung weiter. Ein Chagrinleder des Geistes. Die mangelnde Fähigkeit ganzheitliche Prozesse (also alle Details im Auge zu behalten, sie ins Auge zu bekommen) zu erzeugen oder zu erkennen, hängt mutmaßlich mit dieser funktionellen Sinnbildung bzw. diesem Konzentrations- d. h. Spezialisierungsprozess – und das heißt hier: dem organischen Funktions­optimum – zusammen.2vgl. Eccles, in: Das Gehirn des Menschen, Piper, Seite 140 f
Konzentration als geglückte Lähmung ungeahnter Möglichkeiten. Die industrielle Verknappung menschlicher Kreationsvermögen (zum not-wendigen personifizierten Arbeitsverhältnis) wiederholt den Einschränkungsprozess des Lernens auf der gesellschaftlichen Ebene des individuellen Alltags: Im Arbeitsprozess. „Arbeitsfähigkeiten werden durch die technologische Entwicklung abgestuft, entqualifiziert. Dies stellt eine Enteignung dar und ist zugleich ein Stück Entwirklichung.“3Oskar Negt, Alexander Kluge, in: Geschichte und Eigensinn, Band I, Edition Suhrkamp Seite 39
Die Konstruktion von Konzentration (die zweckgerichtete Spezialisierung als Herauslösung von Objekten) steht vor deren funktionaler Anwendung, vor dem konzentrierten Zusammenschneiden der Konstrukti­onsteile, dem Zusammenbringen von Welt-teilen. “So reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem anderen auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet.“4G. W. F. Hegel, in: Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp Wissenschaft, Seite 18 Das ungefilterte sinnliche Eindringen des Menschen in die Totalität des Hier und Jetzt würde ihn umbringen, wenn er erkennt, dass sie nicht existiert. Die Hegelsche Aufhebung der Totalität als Konkretes ist deren Rettung: Die Transformation der Totalität in etwas Konkretes ist unsere Rettung: Es ist, als ob sich dieser Prozess physiologisch im Gehirn wiederholend einbrennt bis er sich zur wissenschaftlichen Macht der analogischen Vernetzung abbildet. Wir lernen, das alles und jedes auf ein Anderes nieder gebrochen werden kann. Die Steigerung der Konstruktionsleistung im Gehirn, der zunehmende (wissenschaftlich geförderte wie gewohnte) Konstruktionszwang von Welt – zur Neu-Ortung des eigenen Daseins, und dessen wechselhaftes Schicksal  (z.B. Berufswechsel), verschärft das ständige Neuanlegen und damit Demolieren von Nervengebilden und Gedankengestalten. Die Geschwin­digkeit des Wechsels von Bildung und Vergessen nimmt zu (erst Kopfschmerz dann Burnout als Zerstörungsschmerz?). Das Gehirn bildet in seiner permanenten (evolutionären) Zerfurchung und im aus- bzw. haushalten der Zerfurchungen seine Verwendung, Aufgabe. Dessen organische Destruktion ist ebenso sehr dessen kognitiver Aufbau. Sind daher besonders die Verstandesbegabten von psychischer Destruktion bedroht? Das einzelne Sterben, Verkümmern der Nervenzellen zeugt von der abschließenden Konstruktion des Organs.

Die Nervenenden werden von bestimmten Reizen in dafür bestimmte Areale des sich Vernetzens getrieben (Hören, Sehen, Sprechen). Dieses Wachsen erwirkt eine Sensibilisierung, eine höhere Empfangsbereitschaft – als Vorbereitung der Wege, die die organische Wüste flutet. Die fata morgane Wirklichkeit, Umwelt, Operationsbasis – wie man will – verschwindet im wirklichen Wasser. Wir ertrinken nicht darin, und trinken nicht davon, doch sehen wir das Meer. Dieses Wachsen mit der Gefahr von Endgültigkeit, weil das Weiter der Konstruktion abgebrochen werden kann, weil der Nachschub an Reizen fehlt, wenn die Empfänglichkeit unberührt bleibt. „Nur die [internervalen] Verbindungen werden stabilisiert, die im weiteren Entwicklungsgang des Hirnes auch aktiviert werden.“5Olaf Breidbach, Konturen einer Neurosemantik, in: interne Repräsentationen, Neue Konzepte der Hirnforschung, stw 1277, Seite 10 Idealisiert dargestellt: Reicht ein bestimmtes Reizpensum, d. h. dessen Nervenverschlingende Entsprechung als Wachstum der Nerven­sprossen aus, beginnt die Nerven- und Sinnesbahn, das Reizempfindungs- und Empfangssignal zu funktionieren; das weitere Konstruieren/ Wachsen versiegt, nun reduziert auf seine von ihm geschaffen Gleise. Das Anfangen des Verstehens schließt sein (physiologisches) Eingefangensein ein. Nur im Rahmen des Verstehens kann ich verstehen. In diesem Sinn beendet das Verstehen die Neugier, wenn das Erschrecken am Unbekannten zu groß für die Empfangsbereitschaft ist. Das ungestörte Wissen beendet die Suche, aufgrund vorzeitigen Funktionierens. „So besitzt beim Menschen das Hirn des Embryos – etwa mit drei Monaten – die absolut größte Anzahl von Nervenzellen, nach dieser Aufbauphase werden die Nervenzellen aktivitätsabhängig abgebaut.“6Olaf Breidbach, Konturen einer Neurosemantik, in: interne Repräsentationen, Neue Konzepte der Hirnforschung, stw 1277, Seite 11  Das, was ehemals unmittelbar Reiz war, geht über in Reflex, in funktionale Wahrnehmung, mutiert zur Konsolidierung der Gedächtnisspur, in Schon-Gewußtes. Als würde eine Abstimmung, ein Abgleich auf den Punkt des Endes vom Weg erfolgen; dort wo die Nervenbahn nicht weiter kam. Ein erfahrener (reflektorischer) Vorschuss des Bewusstseins auf seine Wirklichkeit. Jedes neue, brachiale Reiz-Fluten zerstört die schon angelegten Engramme (Bahnen), überwuchert deren Vergangenheit, jede neue Markierung fixiert die an ihr verwendete, aufgebrauchte Lern-Zeit-Energie als Widerstand. Die überflutenden Möglichkeiten belagern die bisherigen Erfahrungsbedingungen – die Überfrachtung machen sie nutzlos. In der physiologisch funktionellen Empfangsbereitschaft des Gehirns ist ein doppeltes Moment zu sehen: Das die erworbene Empfänglichkeit für bestimmte Informationen (Reize) diesen einen leichteren Zugang ermöglicht, was zugleich den Abbau einer schon erworbenen Empfänglichkeit provoziert. In dieser konstruierenden Zerstörungsarbeit liegt die Zukunft des noch Wahrnehmbaren, das Aufnahmevermögen, die Sensibilität. Unsere Ahnungen sind Läsionen: Bei größer werdender Reizaufnahme werden die vorhergehenden Engramme, Bahnen, Gleise vergraben, verdichtet, genannt: Vergessen.7“Ruhende Festlegungen kennen die Gehirne nicht. Die synaptischen Bahnungen verlöschen bei Nichtgebrauch. Wenn also im Gedächtnis des Gehirns etwas aufbewahrt werden soll, muß es im unbewußten Rohmaterial beweglich bleiben, d. h. es arbeitet dort, es darf nie vergessen werden.“ Oskar Negt, Alexander Kluge, in: Geschichte und Eigensinn, Band I, Edition Suhrkamp, Seite 54 Die ständig dazu kommenden Stockwerke des Sinnesverkehrs bilden ein Hochhaus ab, wo im obersten Ausguck nicht mehr erinnert werden kann, wie rein zu kommen war, wie und wo man den Eingang fand, >>wo bin ich hier<< dann erst oben fragend. Die unteren Stockwerke verschütteten den Blick nach oben und sind dunkel für den Blick von oben nach unten. Sind die Läsionen zu schwerwiegend, betreffen sie das zukünftige Agieren. Die Nervenbahnen können sich nicht mehr über sich hinweg arbeiten, sind sich im Weg. Wenig Erinnerung und Neues schont die Nerven (physisch, schont die Nerven-Rinde vor dem Nachempfinden des sie überwach­senden Reizes möglicher neuer Wahrnehmungen, schont vor ihrer immerwährenden Erstürmung. Bevor das Alte vergeht, hört es noch das neue Gras wachsen. Der erinnerbare Traum ist ein Nothalt. Er zeigt das Nachflimmern, Schweifen der Nerven, das von ihnen Unerledigte des Tages. Traum als Rückgriff schultert gestörte Erfahrungszusammenhänge bzw. Kompensationsvorgänge. Kanalarbeit.

 

 

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