92, Das Kunstwerk als Totalität, bildtheoretisch

Was wir vorfinden, ist unsere Welt, ist das Bild, was wir sehen.
Es ist erforderlich, das Bild in einer Ausstellung von Anfang an in seiner Totalität zu betrachten. Außerordentliche Kontexte sind in diesem Moment nicht notwendig. Jedes seiner Teile mit allen anderem nimmt teil – mit dem, was vom Betrachter über sich und darüber hinaus gewußt werden kann, dabei jede Form zu einer frei gewählten ins Verhältnis setzend. Und dieser Vorgang ist, so gut es geht, aufmerksam zu beobachten, während der Beobachter sich selbst bei dieser Arbeit beschreibt und zugleich fragt, warum, wie etwas auf diese Art und Weise von ihm beschrieben wird. Das verschafft einen Zugang zum Bild. So kann der Raum zwischen Beobachter und dem Bild zum Oszillieren gebracht werden,
Also, nicht der Wahnsinn des Einzelnen, sondern der Wahnsinn des Ganzen, die geschichtliche Maschine des jeweiligen Bildes ist zu sehen, sobald damit angefangen wird, sich auf die Totalität einzulassen. Ohnmacht bleibt nicht aus, Verzweiflung, der Chock über formal-visuelle Zustände ist zuständig für den Beginn von Aufklärung. Die Auswirkung der Formen, die der Betrachter sich selbst beschreibt und für sich zensiert ist als Wirkung auf den einzelnen Beobachter zu bergen und zu begreifen.

In künstlerischen Kontexten besteht das Problem, das Bild-Theorien (Narrative der Bildbeschreibung) mehr sich selbst erhärten als das sie der offenen Beziehung von Gegenstand und Beobachter genügen. Die Möglichkeit verdeckter – absoluter, d.h. vom Betrachter unabhängigen – Beschreibungen, um der Falle des Objektivierungs­zwanges (des Objektivierens, des Objekts) zu entkommen, gibt es nicht. Es hilft nur, die eigene Beobachtung in die Beobachtung mit hinein zu nehmen. Du kannst nur das beobachten, von dem du Teil bist: „…getreu dem Grundsatz, daß eine soziale Situation nicht durch jemanden definiert werden darf, der nicht auch in sie verstrickt ist, mithin Realität im soziologische Verstande nur das ist, als was sie durch ihn definiert wird.“1Helmuth Plessner, in: Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Fischer Taschenbuch Verlag, Seite XVI Das Objekt der Betrachtung (das Kunstwerk) und der Betrachtende sind das Objekt der Betrachtung. Darin wird eine Realität erzeugt und bezeugt.
Jede Möglichkeit der symbolisch-begrifflichen Abstraktion von sinnlicher Erfahrung dem Kunstwerk gegenüber erleichtert die totalitäre Geste seiner Beschreibung.

 

 

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