62, Genüsse zwischen Netzen

Wenn der Genuss am Objekt (Beobachtetem) aus der Beobachterposition als Fallhöhe, als Macht-Sicht (Macht aus Distanzmöglichkeit) gegenüber dem Objekt (Beobachtetem) gezogen wird, die Instrumentalisierung der Beobachter-Position andere Beobachtungsstrukturen -und Objekte erzeugt, verkümmert die Fähigkeit zur Beobachtung 2. Ordnung – die Selbstreferenz geht verloren. Empathie schwindet. Das Objekt wird zugerichtet.
Die mit Sicht-Macht ausgestattete Beobachter-Position macht den Unterschied zwischen gewährtem und erarbeitetem Genuss. Das Gefälle zwischen dem Gladiator und Publikum ist scheinhaft. Solang wir ihm zusehen, sind wir an seiner Statt. Der sich nur-beobachtend wähnende Beobachter – derjenige, der sich keine Sicht-Macht zuschreibt und Distanz aus der Ohnmacht gewinnt – wird zur gesellschaftlichen Stabilisierung funktionalisiert werden.
All das, was als Beobachtetes gezeigt wird, ermöglicht Rückschlüsse auf den Beobachter. – Nunmehr zum Geschäftsmodell im Internetz geworden. Der Beobachtete wird mit einem Fernrohr getröstet oder tröstet sich selbst durch das Distanzversprechen der Optik (dem technisch zwischengehaltenen Medium). Denn jedes weitere Kommunikations- bzw. Informationsinstrument macht den jeweiligen Nutzer von Beobachtungsmedien desto mehr ort- und dechiffrierbar. Man kommt überall hin, aber nirgendwo ungesehen durch. Beinah ungezwungen wird man zum Mitteilungsträger. Infomotoriker. Blockwart seiner selbst: durch die Augen, Kommentare der Anderen. Der Apparat verschluckt im vorweg greifenden algorithmischen Zugriff die jeweilig künftige Biografie, Handlungs-Geschichte des Einzelnen und erfasst ihn nicht nur (wie es z. B. in Buch- oder Artikelempfehlungen auf amazon geschieht), sondern schleift ihn mit. In der Imagination der siegenden Unternehmen verdampft das lebendige Subjekt ins avatarische, in eines, über das Daten gesammelt werden, aber nichts nachlesbar steht. Der Unrat der soziopathischen Verwertungs-Gesellschaft quillt aus den Wunden des vereinzelten Subjekts, aus seinen Lesezeichen im Browser, aus den Reißverschlüssen seiner Plastiksachen. Das einzelne Subjekt erweist sich als abwickelbar, sofern es im Produktionsprozess erkannt und beschrieben werden kann. Die Beschreibungen erfolgen hier erkennungsdienstlich. Die Welt zu verdauen, um Geschmack an uns selbst zu finden, ist die Falle. Die Eitelkeit der kapitalistischen Produktion in ihrer Selbstdarstellung, deren Raubbau an menschlicher Sozialität produziert ebenso ihren Kannibalis­mus: Menschen, die sich so als Konsumenten, Ware, Produzenten zur Schau stellen, wollen von Uniformen, Produkten gefressen werden, bevor sie es selbst tun. Der Geldeingang nach dem erzwungen affirmativen Verrat im Job ist der Riegel vor der Konsequenz von Alternativen. Die neue Qualität: Seid bereit, die Welt zu verlangen, alles soll euch zu Füßen stehen, überall hin könnt ihr scheißen. Ihr müßt nur zahlen! Ihr müßt nur an euch selbst satt werden. „Spare dich satt.“ (Werbeanzeige eines Discounters.)
Der werbeträchtig unterminierte Sinn des Kunst-Geschmacks ist als Form eines ästhetischen Sogs finanzkräftigen wie partikulären Interessen unterworfen. Jede beworbene Ware verlangt, das rohe nachfragende Bedürfnis mit Geschmack zu überhöhen, d. h., der produzierte Ideengehalt der Ware (Image, Branding) soll die Ideen der Käufer beeinflussen, ja, sein Image darstellen. Ein Auto verleiht erotische Anziehung, ein Händi spirituelle Tiefe – mittlerweile bereiten Klamotten auf den Sinn des Lebens vor. Das durch Kauf versprochene Lebensgefühl dient dem die Ware ratifizierenden Konsumenten als bezahlbarer Unterschlupf. Jener Geschmack als „materielles, unmittelbares sinnliches Privateigentum ist der materielle sinnliche Ausdruck des entfremdeten menschlichen Lebens.“1Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW, Ergänzungsband Schriften bis 1844, Erster Teil, Dietz Verlag Berlin, 1977, Seite 537 Dass über Geschmack nicht gestritten werden könne, heißt nur, dass der jeweilige Ladentisch für jegliche Waren und Preise frei bleiben soll. Das Lebensgefühl wird auf Waren aus dem Regal projiziert. Design-Zeitschriften sind voll von verdinglicht eingerichteten Lebenssinn.

 

 

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