19, abbilden erleben

Warum werden so viele Urlaubsfotos, Selfies, Permanent-Fotos auf Partys und Shots vom Fernsehturm, von Sehenswürdigkeiten gemacht? Dient das Foto-schießen Rumballern mit Fotos als touristisch-terroristische Aneignung von Welt, die mit ihrem großen digitalen Treibnetz keine Objekt-Oase durch die neugierig-kolonisierenden Objektive entkommen lässt? Ohne fotografische Aufnahme droht das Gesehene, Erlebte ins Nicht-Passierte zu versinken. Widersprüchlich ist die Differenz zwischen der singulär anmutenden Intention der fotografierenden Person, die ihren Moment bannen will – egal, wo er im Foto-Ordner abgelegt wird und wie überquellend die je einzelnen Momente sich im Wege stehen – und ihrem Bedürfnis, den erkorenen Moment mit aller Welt teilen zu wollen (wo doch der Fernsehturm als Motiv millionenfach reproduziert wurde). Oder sind wir mit dem, was wir individuell von uns abbilden, beliebige, austauschbare Teile des Rauschkörpers Menschheit? Erringen wir geradezu die Beliebigkeit der Orte, unterwerfen wir sie durch das tausendfache Abbilden, um selbst nicht zu sinken? Das gepostete Foto soll eben nicht zu individuell sein, sondern mehr den Anteil am Durchschnitt markieren: es matched mit dem Gros der Adressaten. So geht mit dem Bedürfnis nach geteilter Aufmerksamkeit auch eine soziale Stabilisierung des fotografisch gebannten Er-Lebens durch dessen medial-soziale Verteilung einher. Es scheint, dass mit der verinnerlichten Blick-Technik sozial-medialer Reproduktion von  persönlichen Erlebnisses eine Sicherheit, d. h. Vergewisserung über das eigene soziale Leben gewonnen wird. Geht’s dir nicht auch so? Ja, dort war ich auch schon mal.

 


© Hans Georg Köhler, 2021

 

Im 19. Jahrhundert stellte die aufkommende Fotografie das Selbstverständnis der Bildenden Kunst in Frage. Landschaftsmalerei, Porträt, Stillleben, Hand­werksszenen verloren den mimetischen Blick der Künstler als Realitätsverweis. Jenseits eingeforderter Authentizität zu als real empfundenen Vorstellungen über gesellschaftliche Landschaften sind und waren die Kunstwerke geprägt von künstlerischen Eingriffen und Verklärungen. Die in die Kunst des 19. Jahrhunderts hereinbrechenden revolutionären Abbildungstechniken sprengten die herkömmlichen, omnipotent-künstlerischen, d. h. natürlich auch: eigenmächtigen Darstellungsweisen gesellschaftlicher Realität, und entzog dem Dargestellten den Makel des individuell-anhaftenden Blicks, ja, emanzipierte das Abbilden von der Expertise der Künstler. Der Geschmack an Wirklichkeit brauchte für seine technisch machbare Nachbildung keine gesonderte künstlerische Form mehr – die fotografische Nachbildung von Wirklichkeit wurde populär – und die künstlerische Form wurde der verinnerlichten naturgetreuen Referenz auf außerkünstlerische Formen ledig: In der künstlerischen Form wurde nun selbst – unabhängig von Authentizitätsverweisen gegenüber von Realitätsreferenz – eine inhaltliche Selbstbestimmung gesucht.1„Die gesellschaftliche Ersetzung der Darstellungsfunktion der Kunst durch nicht-künstlerische Bildmedien und neue Formen technischer Bildproduktion seit dem 19. Jahrhundert setzte die Kunst – in Hinblick auf die von ihr nach wie vor beanspruchte Selbständigkeit – zunehmend unter Druck. Die Selbständigkeit der Kunstproduktion war nicht mehr automatisch durch die Eigenheiten der Bildform garantiert, vielmehr mußte sich die Kunst als Ganzes – auch inhaltlich – neu orientieren. Die Künstler der Moderne erklärten daher – pointiert gesagt – die künstlerische Form zum alleinigen Inhalt der Kunst. Und darin beanspruchten sie Autonomie, radikale, auch inhaltliche Selbstbestimmung in der Kunst.“ Thomas Lehnerer, in: Methode der Kunst, Königshausen & Neumann, Würzburg 1994, Seite 31 Die Authentizität als Treue zum Nachgebildeten entwickelte sich zur Authentizität des künstlerischen Prozesses (mit all ihren noch heute zu findenden Mystifikationen). Das Authentisch-Sein des Kunstwerks konnte in der Künstlerexistenz geborgen werden, nahm dort Zuflucht. Die Selbsterfindung des Künstlers mußte sich fortan an eigenen, selbstbezüglichen Erfindungen von Formen im Kunstwerk messen lassen.

Das revolutionäre der Fotografie war, dass nun massenhafte Seherfahrungen in massenhaften Reproduk­tionen bildlich abrufbar, d. h. wiederholbar dargestellt werden konnten. Man brauchte nicht mehr in verschwommenen Erinnerungen stecken bleiben, sondern hatte jetzt ein wiederholbares Wahrnehmungs-Abbild zur Hand. Die Fotografie konnte Wahrnehmungs-Erfahrungen, die bisher der Kunst oblagen, schneller zu Ab-Bildern formen und vervielfältigen. Die Ähnlichkeit mit dem Objekt als Wirklichkeitsbezug emanzipierte sich in der Fotografie gegen die Bildende Kunst und verlor in den künstlerisch langsameren – und kostspieligeren – Darstellungsweisen ihre Wirklichkeitszitierende Bedeutung. Dieser Zusammenhang von auf Wiederholung insistierender Wahrnehmung der Reproduktion und Produktion von neuen fotografischen Wahrnehmungsangeboten beschleunigte nicht nur den Prozess der Verbreitung von Wahrnehmungsofferten aus dem Produktionsumfeld (als Repräsentationskommunikation der Produktion), sondern auch die Entwicklung der technischen Reproduktionsleistung der foto-technischen Apparatur. Die kapitalistische Produktion begann sich deren technisch-erfassbare Abbildbarkeit in ihre Selbstwahrnehmung einzuschreiben. Ihr Selbstverständnis pocht auf die Objektivierungstechnik der neuen Apparate und wird in Zahlen, Fakten, Daten gegossen. Die menschliche Seh-Erfahrung wurde in technisch erfassbare Kalküle überführt wie  beschnitten und durch kalkulierbare Erfassungsmedien geändert. Der menschliche Blick konnte auf das Format erweitert wie fixiert werden und ist technisch ausdifferenzierter geworden, er ist vorhersagbar in die Maschine geflüchtet und kann durch sie abgebildet werden – wenn man den Blick für sie hat. Es entsteht eine menschlich-technische Verwandtschaft zwischen der individuellen Technik der Abbildung, den Foto- und Reproduktionsapparaten und der Abbildung von Technik. Es ist technisch naheliegend, dass die Produktion von Abbildungen irgendwann mit ihrer produktkonformen Verwertung zusammenfällt: Beinah jedes Foto, das in modernen Kameras entsteht, löst ein investigatives Ereignis aus: Geotagging, Internet-Anbindung ermöglichen nicht nur weltweite Verortung des Abbildungs-Ereignisses (das Ereignis ist jetzt ein technisches), sondern auch weltweiten Zugriff. Es ist kaum ein Foto mit dem Handy zu machen, dass nicht von Serverfarmen gespeichert und letztlich für Netzwerk-Konzerne und IT-basierte Geschäftsideen abrufbar und daher auswertbar deren Nutzung unterliegt. Gesichtserkennung, Produktplacement etc. Es kommt zur Annäherung zwischen dem (einzelnen fotografisch herausgerissenen) Objekt und seiner reproduktiven Erfassung: eine potentielle Vervielfältigung durch Verwertung  – Entwertung durch Vervielfältigung? – ist jedem Schnappschuss eingeschrieben.

 


© Hans Georg Köhler, 2021

So wie die Produktion auf sich selbst blickt, können wir nicht schauen. Der Auslöser eines Fotos mutiert mit ihm zu einem Daten-Portfolio von Koordinaten aus Wann, Wo, Wer – ortbar. Das ausgelöste Foto hält das Motiv, Ereignis nicht nur fest, das Motiv, Ereignis wird im digitalen Orbit von seinen individuellen Fesseln befreit, ja: Ein Ereignis wird zum Ereignis, indem es als Abbildung – als digitaler Datensatz – ausgelöst wird. Wir inszenieren! Wir verändern die sichtbare Welt.

In der Bestimmung wie wir durch das Objektiv schauen, wird auch das, was wir sehen (könnten), verändert. In der technisch verwertbaren Abbildung eines Objekts (als Ereignis des Objekts) ist die technisch verwertbare Realität des Objekts (als das Objekthafte im Ereignis) zu erkennen.  D. h. auch, dass stetig Objekte durch das Abbilden (erst) erzeugt werden, was auch heißt, dass Zusammenhänge – als die Verbindungen zwischen den Teilen begriffen – auseinandergerissen werden und die herausgeschlagenen Bruchstücke zu Objekten erniedrigt werden. Die Wirklichkeit der Abbildung ist ihre Verwertbarkeit. Man gewinnt der Realität mehr ab, als nur das (Ab-) Bild der Ereignisse. Die Realität gewinnt ihre Qualität dadurch, dass sie verrückt werden kann und das sie ihre Objekte zurechtrückt. Die im technischen Vollzug konstatierten – der Reproduktion kompatiblen – Erfahrungen werden so zu technisch kompatiblen Schnittstellen der Kommunikation. Der ideologische Wunsch nach Selbstdarstellung der Produktivkräfte- wie Mittel konnte mit der produktiveren Technik bildlicher Reproduktion durch die Fotografie erfüllt werden. Ab hier suchte die bildende Kunst ihre neuen Arbeitsfelder, Ausdrücke, Nischen. Das ästhetische Kalkül in der Kunst hatte das Vorrecht der Abbildung verloren und erlangte zwangsweise wie folgerichtig die Freiheit vom Konstrukt der Ähnlichkeit. Die fototechnisch reproduzierbare Empirie stand nun im Dienst technisch rationalisierbarer Realitäts-Erfahrung und gewährte gerade aufgrund ihrer technischen Kühle eine vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeits-/Wahrnehmungsgehalt (wenn es soetwas überhaupt gibt). Das technische Verfahren des Abbildens versicherte Gewissheit, eine Kontrolle über den technischen Ablauf der Bemächtigung von Phänomenen. Eine Art technisch leistbare Kontrolle als Bemächtigung über das Ereignis ohne leibliches Erleben erhält Vorrang. Die Frau der Mann hinter der Kamera wird unsichtbar. Der technisch bezeugte Realitätsgehalt im technisch-fotografisch erzeugten Abbild fungiert als objektive, weil technische Rückkopplung auf sein – nun abgebildetes – vor-bildliches Stattfinden/ Stattfgefundenhaben: Das Ereignis ist Foto geworden. Das Foto ist original. Der technische Abbildungs-Apparat – z. B. die Kamera zwischen Auge und Beobachtetem – trennt wie vermittelt die unmittelbare Wahrnehmung zwischen Auge und Beobachtetem. Die digital-reproduktive Verwirklichung von Gesehenem zu Abgebildeten ist die neue Wirklichkeit des Betrachters. In der fotografischen Fixierung des Objekts manifestiert sich bereits dessen Petrifikation (…ein Bild schießen). Die Totalität der medialen Reproduktion erlaubt dem angeblickten Augenblick nicht mehr zu verschwinden. Als hätte der Fotografierende in verlorener, hoffnungsloser Lage noch etwas aufgenommen, was er nicht begreifen kann, aber in der Handhabung der Kamera ist etwas fixiert, woran er sich mit dem Apparat erinnern kann.

Ich weiß nicht, ob wir befürchten müssen, dass zugunsten einer digitalisierbaren Beobachtungskultur die unmittelbare Sinnlichkeit des körperlichen Wahrnehmens dem Körper entzogen wird. Die Interaktion zwischen Beobachter und Beobachtetem wird durch dessen abbildhafte Bannung – das Foto – unterbrochen, und die Interaktion zwischen den Teilnehmern des Ereignisses. Mit den Möglichkeiten fotografischer Abbildungstechniken wird das Erlebte derart foto-digital vervielfältigt, so dass Interaktionen zwischen den – an diesem Erleben – Beteiligten unnötig werden. Die Vergewisserung der Teilnahme wird im Teilen und goutieren der Abbildungen (posts) erlangt. Das Medium der technischen Apparatur erübrigt die Interaktion der Anwesenden.2„Für die Ausdifferenzierung eines Systems der Massenmedien dürfte die ausschlaggebende Errungenschaft in der Erfindung von Verbreitungstechnologien gelegen haben, die eine Interaktion unter Anwesenden nicht nur einsparen, sondern für die eigenen Kommunikationen der Massenmedien wirksam ausschließen. […] Erst der Buchdruck multipliziert das Schriftgut so stark, dass eine mündliche Interaktion aller an Kommunikation Beteiligten wirksam und sichtbar ausgeschlossen wird.“ Niklas Luhmann, in: Die Realität der Massenmedien, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage 2009, Hrsg. Jörg Rössel, Uwe Schimank, Georg Vodruba, Seite 26

Erst im Anblick des Urlaubs-Fotos scheint sich eine Bestätigung der erlebten Situation zu einer erinnerbaren zu realisieren. Ein Dabei-Sein, was vorbei ist, wird (als Ab-Bild) eingeholt. Die technisch möglich gemachte also fotografisch abrufbare Erinnerung setzt die Erfahrung erst durch erinnerbares Erlebnis-Material in Gang. Eine Art posthistorische Erfahrungskontinuität entsteht. Die Vermittlung von Authentizität zur Kontinuität der eigenen Geschichte findet a posteriori und mit technischer Vermittlung (als ausgedrucktes oder gepostetes Foto) statt. D. h. nur bei solchem Anblick eines ständig wiederholbaren Fotos findet sie statt. Fotos sind Erinnerungsprothesen. Die Gegenwart wird durch technische Apparate geschleust und zur Abbildbarkeit gezwungen, um Vergangenheit zu realisieren. Was faktisch auf dem Foto erscheint, mutiert zum Narrativ des abgebildeten Ereignisses und ist es nicht selbst. Denn die Formen, Farben auf dem Fotopapier verweisen materiell-technisch beschränkend auf den erinnerbaren Erfahrungsraum und das abgebildete Ereignis ist als fotografischer Ausschnitt eines Erlebnisses eben auf einen technisch machbaren Ereignisausschnitt angewiesen. Wir lügen uns mit unseren Fotos an. Die technischen Umstände der Erinnerungsfixierung bestimmen, wie und was zu erinnern ist. Sie sind durch den technisch machbaren Abbildungsraum determiniert. Auch das Schauen selbst wird damit vor-bestimmt. Was ohne technische Hilfsmittel dem Gedächtnis nicht erinnerbar ist, ist das, was vergessen wurde, ist das, was vorbei ist: Es hat im Sinne der individuellen Selbstrepräsentation nicht stattge­funden, wenn es nicht durch publizierbare Nachweise gesichert wurde.

Durch die technische Fixierung vergangener Lebenspunkte wird dem seine Ereignishaftigkeit abbildende Subjekt seine Nicht-Anwesenheit, sein Nicht-Erleben, seine nicht vollzogene unmittelbare Interaktion im Foto, Video angezeigt – es ist längst zum Beobachter seiner (abgebildeten) Biografie, zum Selfie geworden. Es ist ein Subjekt, das immerfort während der technischen Aufnahme seiner Ereignisse im Ereignis selbst nicht da ist, nicht bei sich ist oder im Selfie als sein eigenes kaltes Objekt gebannt ist. Denn, dass dies oder jenes als Lebenspunkt festgehalten wurde, heißt doch auch, dass durch den Augenblick des (technisch diskriminierten) Festhaltens genau dieser Augenblick verloren ging. Das (performative) Erleben wird in Information – digitale Fotopixel – verwandelt. Das was informativ konstatiert wird, steht quer zur performativen Aktivität.3Niklas Luhmann formuliert es andersherum: „Die performative Aktivität muß einen Unterschied machen, der quer steht zu dem, was konstatiert wird.“ Niklas Luhmann, in: Metamorphosen des Staates, zitiert in: Lektionen 1, Bernd Stegemann, Dramaturgie, Verlag Theater der Zeit, 2009, Seite 329 („Dramaturgie der Kommunikation“) Die Differenz zum Erleben wird als Unterscheidung in Form einer konstatierbaren Information (Selfie, Foto) hergestellt. „Die gesellschaftsweite Beobachtung der Ereignisse ereignet sich nun nahezu gleichzeitig mit den Ereignissen selbst.“4Niklas Luhmann, in: Die Realität der Massenmedien, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage 2009, Hrsg. Jörg Rössel, Uwe Schimank, Georg Vodruba, Seite 40

Die Möglichkeit des menschlich-individuellen Vergessens wird durch selbstverliebte Datenberge erschwert. Der Zugriff auf alles irgendwie fotografisch Erlebten wird fürs Individuum allgegenwärtig machbar. Die menschliche Fülle erlebter Erfahrung aber beinhaltet Erinnerungsarbeit – was ein selektives Vergessen impliziert. Das, was als erprobte Erfahrung zur geschichtlichen Kontinuität des Individuums beitragen soll, wird Initial seines Spaltungsprozesses, wenn die geübte Erfahrung nutzlos ist.5Hier kommt noch die Schwierigkeit hinzu, dass neu in Gang gesetzte Erfahrungen überhaupt das Ich in seiner gewohnten Masse, seinem angewöhnten Radius stören. Jedes neu hinzukommende Ereignis wird als Defizit an alter Erfahrung gebraucht, erklärt daher das Alte oder das Neue als Mangel. Das Neue als Defizit des Alten? Insofern ist sich veränderndes Erfahrungsmaterial auch Spaltungs- d. h.: Entscheidungsmaterial, zumindest Hürde gegenüber dem Neuen. Das Ich wird auf vielfältige Weise aus seiner erfahrungsgemachten, -gemäßen Trägheit gerissen.Die empfundene Gegenwart als Standpunkt realisierter Vergangenheit in dem Sinn, dass gegenwärtig gefundene Unterschiede zu etablierten, angeeigneten Formen vorhandener Erfahrung zu neuen Möglichkeiten gerinnen, die in ihrer Vielheit eine Struktur für ein zukünftiges Handeln gewähren.
Wie aber, wenn ich das Neue nicht sehe und immer wieder die alten Fotos betrachte. Ich mich zurückziehe auf konstatiertes – fotografisch festgehaltenes – Erleben. Meine Erfahrungen sind lediglich technisch vollzogene (fotografische) Reproduktionen meiner technisch etablierten Erinnerungen. Ich erschließe, verunmögliche meine Gegenwart durch den zeit-authentischen Verweis meiner Erfahrung im vergilbten Foto. Je technischer vermittelnd Erfahrung in flachen, digitalen Reproduktionen abbildend in Gang bzw. auf stand-by gehalten werden kann, desto mehr nimmt sie den Charakter prothesenhafter Idealisierung an. Sie ist aus dem Gedächtnis in den digitalen Speicherplatz ausgelagert. Die fotografisch animierte Erinnerung stellt das betrachtende Subjekt auf einen zeitlich jüngeren Zustand seines Erlebens zurück. Es schlüpft aber nicht in die Zeit seines tatsächlichen Erlebens zurück, sondern in jenes digitale Versteck, das den Erlebnisraum technisch beschränkend markiert, jedoch jenseits des Individuums installiert: in der Cloud kommen jene sich selbst gegenüber fremd seiende Schnappschüsse zur Ruhe. Die pathologisch anmutende Fotografierwut und die Speicherung ihrer Resultate scheint leibliche Erfahrung zugunsten einer selektiven wie jederzeit abrufbaren Bildspeicherordnung aufzugeben. Modelling. Das gegenwärtig zu Erlebende wird im Foto zur Versicherung, dass man gegenwärtig war. Natürlich fängt nicht jeder fotografischer Schuss ein Ereignis ein.

Kann ein Ereignis, die über die technische Reproduktion des Wahrnehmungsmaterials erschlossen wird, für jemanden, der nicht zu ihrem Abbildungsmaterial gehört, evident sein? Als eine Erfahrung, die sich erst durch deren fotografische Reproduktion erschließen lässt? So, als wohnte man einem Schauspiel bei, indem man selbst Akteur war, aber zugleich die Kamera hielt und sich deshalb als Protagonist ausschloss? Muss man die Abbildung (Speicherung) eines Ereignisses mit der darin gemachten Erfahrung zusammendenken? Braucht solches Reproduktions­material ästhetische Qualitäten, um den Erfahrungsfremden in den angebotenen und abgebildeten Ereignissraum hineinzuführen? Weil das Ich sich sonst nicht dazu verhalten kann? Das Ereignis-Ich müsste sein eigenes – durch seine Kamera – beobachtetes Ereignis „gut dargestellt“ haben, um einen selbstischen Kontakt zu sich über diese Abbildung wiederum herzustellen. Das heißt, dass das Ästhetische der Abbilder zur Entkörperlichung der Wahrnehmung der Wirklichkeit beiträgt, den ursprünglichen Augenblick überschreibt. Oder ist das entkörperlichende Phänomen des Ästhetisierens oder die Flucht zum Ästhetischen unserer Erfahrungsweise näher?6„Verfremdung scheint eine notwendige Vorbedingung von Erfahrung zu sein.“ Brian O’Dorthy, in: Insight the white cube, Seite 62 Man sieht – gerade in der Kunst wie in den (stets auch sinnlich wahrzunehmenden) Massenmedien –, dass das konstatierende Moment einer Information das performative ihrer Mitteilung nicht auslöscht. Die Kunst ist durch ihren formalen Gebrauch sinnlichen Materials ambivalent zur Entkörperlichung des Sinnlichen.