121, Affirmation und Neurose

Das Erkennen der eigenen Lage scheint so nah. Die Redundanz der Schutzbe­hauptungen, wie: „so ist eben das Leben“ zeigt die Anziehung in der psychischen Umlaufbahn der Vermeidung, Verdrängung und die frühe Fixierung des Subjekts zum gegebenen Weltverältnis. Es wird kein individueller Standpunkt eingenommen – nur der zu einem normopathogenen Commen sense,1vgl. Hans-Joachim Maaß, in: Das falsche Leben, C.H. Beck: München, 2. Auflage 2017, Seite 16  aber verharrend auf sich selbst, wird gegen die strörende Welt gestritten. Im Unbestimmten, wird die Indifferenz zu sich selbst ausgehalten. Die Hand wird nicht nach Welt ausgestreckt, denn man würde nur ihre einzwengend pragmatische Sichtweise einlösen. Diese Entzweiung, die in der Entgegensetzung von Welt und Subjekt besteht, solang das Subjekt sich glauben macht, seine Umwelt zu kontrollieren, indem es sich agierend gegen Welt entlang des geforderten Pragmatismus verhält, führt letztlich in den eigenen Körper hinein. Die eigene Hand schlägt das Subjekt, ausgehändigt von eben jener Welt, die sich als sein Schicksal erweisen sollte. Die Welt, wie sie ein Ich sieht, kann diesem Ich nur zeigen, was es sehen kann. Dieses Sehen ist eingeschränkt durch den Spalt, den das Ich mit der Zweck-Mittel-Relation zwischen sich und Welt errichtet. Eine Implosion zum Ich findet statt, weil jeder erfahrne Moment nicht eingeholter – dirigierbarer – Welt auf es selbst zurück schlägt.
Am Eingang zum eingeschränkten Weltverhältnis – wie ich es hier meine – steht Eigenliebe. Als pathogene Isolierung des Menschen von seiner Umwelt. Vielleicht kann der zelebrierte Masochismus von Sportlern als Selbst-Bestrafung gelesen werden, sich an sich selbst vergriffen zu haben – total entkoppelt von den Ressourcen der Anpas­sungsfähigkeit.2„Es ist eine Ehre für einen Athleten, einen gesegneten Körper zu haben und ihn vor einem Millionenpublikum zeigen zu dürfen.“ John Smith (Trainer von Maurice Greene) in der Berliner Zeitung vom 9.10.8.2003 Eine Wette gegen die Welt auf Kosten des eigenen Körpers. Kaum Quälerei, sondern: effektive Züchtigung zur maximierten Selbst-Selektion gegen den eigenen Körper. Als Leistungssport hier honoriert, ist es ohne Kontrolle ein Verhungern. Das Material ist in den Körper übergegangen. Es findet eine Anverwandlung ans Leblose statt. Ein Verstecken im Verschwinden mit Narben und Wunden im Selbst im Selbstbehaupten. – Ein psychotisches Kennzeichen. Ein Ausweichen vor dem Nichtsein mit verschwindenden Zuständen.3Vgl. Paul Tillich, in: Der Mut zum Sein, De Gruyter: Berlin, 1991, Seite 107 ff u. a. Aus dem Sonnenauf­gang wird das Morgengrauen. Das Anschwellen angstbehafteter Zustände bereits Zeichen des In-Besitz-genommen-seins. Es scheint, dass die Phobie des Subjekts (vor der Niederlage in Sport, Beruf, Beziehung) ein Ausdruck seiner Selbst ist. Die Furcht vor etwas ist schon inmitten; die „Angst wahnsinnig zu werden“ (als auch die „Angst vor Wahnsinn“), zeigt schon Mitgliedschaft an. Das durch den von ihm angenommenen zweckrationalen Pragmatismus bedingte Ich liegt im Allgemeinen wund und wird dort nicht aufgehoben. Im eigenen Körper ist der Körper entpersonalisiert – durch ihn selbst (sein fremdes Selbst) wird dem Ich eine gesellschaft­liche Maske zur Hand gegeben. Du darfst weiterleben, aber maskiere dich! Mach dich zur normativen Persönlichkeit. Das Begehren, sich durch Öffentlichkeit vor dem Tod zu verstecken, drückt sich in Maskierungen aus. Man er-kauft das Ich mit einer artifiziellen Maske, d. h. man muß, wenn man sein Ich behalten will, es mit Maskierungen ausstatten. Die Janusköpfige Geschichte im bürgerlichen Begriff der Verwirklichung wird von dieser formalen Maskerade bestimmt. Könnte die bürgerlich hofierte Eigenliebe4Das Individuum weiß sich auf einem Standpunkt schon bejaht, wo es sich selbst, sein Sein, Selbstbewußtsein (noch) nicht erreicht hat. Die Reduzierung des Selbst, der eigenen Seinsmächtigkeit, um nicht sein zu müssen, was man aus sich machen kann. Siehe Tillich, in: Der Mut zum Sein, De Gruyter: Berlin, 1991, Seite 112 f ein Notausgang aus der geisterhaften Normalität sein? Aus der zwanghaft erotisierten Form des gesellschaftlichen Lebens mit all seinen Überwältigungstechniken ist schwer zu entkommen. Die erotisierten Formen, Waren, Verhältnisse verweisen den Bürger auf seinen Naturzusammenhang, auf den nicht zugelassenen Körper. Tragische Stoffe werden hier geboren. Körper immer Brennen und Wärmen. Die nach innen gekehrte Zerstörung der Wirklichkeit findet im Ich, im gesellschaftlich vereinzelten Subjekt statt, und wird seine Landschaft. Paradise nur Schlacke, Ideologischer Überbau, Überbleibsel, Stoffwechsel­endprodukt. Der Verlust an Wirklichkeitssinn, an kommunikativen Stoffwechsel mit der praktisch-operativen Lebenswelt des Menschen vermindert den Zulauf des Außen, erfordert gar die Sperrung des Zugangs nach Außen, um ein Gleichgewicht anzunehmen, einen reduzierten Punkt zu besetzen, der wieder Überleben verspricht. Öffnung aber für das Sterben, um zu leben. Das Ich jedoch ist sein Begehren zu sich. Eines, das seine Verwandlung durch sich selbst absorbiert.5Vgl. Alexandre Kojève, in: Hegel. Vergegenwärtigung seines Denkens, stw 97, Seite 54, 55
Das Subjekt spielt eine Verrücktheit, die ihm nicht erscheint oder es rettet, durch sich in das Spiel mit ihr, bejaht im Spiel die verminderte Wirklichkeitssicht – kenntlich oft durch seine vereinfachende Charakterisierung der Wirklichkeit, einher­gehend mit dem Verlust an Differenzierung. Trübung setzt ein. Das Einverständnis mit der Lebenswirklichkeit bedeutet, Frieden mit ihr gefunden zu haben.6Paul Tillich, in: Der Mut zum Sein, de Gruyter: Berlin 1991, Seite 58, sagt: „Es gibt eine Situation, in der die Selbstbejahung des Durchschnittsmenschen neurotisch wird, nämlich wenn Veränderungen der Wirklichkeit, der er sich angepaßt hat, den fragmentarischen Mut bedrohen, mit dem er die gewohnten Gegenstände der Furcht gemeistert hat. Wenn das geschieht – und es geschieht wiederholt in kritischen Epochen der Geschichte -, wird die Selbstbejahung pathologisch. Die Gefahren, die mit der Veränderung verknüpft sind, das Unbekannte dessen, was auf einen zukommt, die Dunkelheit der Zukunft, machen den Durchschnittsmenschen zum fanatischen Verteidiger der bestehenden Ordnung: er verteidigt sie so zwangsweise, wie der Neurotiker die Festung seiner Phantasiewelt verteidigt.“ – Die (eigenmächtige) Produktion von Kunst ist dann eine Lebens-Weise, die sich ästhetischer Formen bedient, um durch sie gerettet zu werden (, weil mit ihnen – unter ästhetischen Gesichtspunkten, Kriterien – die Lebensstruktur einer anderen, ästhetischen, Ordnung unterstellt werden kann). Diese künstlerische Lebens-Produktionsweise ist metakommunikativ, sprachspielerisch. Man kann dann über Realität ästhetisch kommunizieren, aber nicht inmitten. Eine aktive Neurose: die Verdrängung, Verschiebung der Realität zugunsten des Problem-Komplexes, zugunsten der künstlerischen Ideen, in dem Sinn, die Realität zugunsten ihrer artefaktischen Interpretation zu verschieben. Verrücktsein spielen, aber die Verwesung der Maske zwingt Gesicht. Der ästhetisch hochgepäppelte Mythos vom Irrealen in der Kunst ist als schöner Fluchtort vor dem widerlichen Leben ausgemacht, denn die Verhinderung des künstlerischen Subjekts soll ein Damm vor der Einsicht vernutzter Endlichkeit sein. Bedroht vom ständigen Kämpfen, bereit zu stetiger Schwäche. Leben verstehen heißt: in es einbrechen. Die Sicherheit zu haben oder zu bekommen, mit anderen dabei gemein zu sein,7vgl. Ronald D. Laing, in: Das geteilte Selbst, Kiepenheuer und Witsch, Seite 205 in ambivalenter Entschlossenheit.8vgl. Paul Tillich, in: Der Mut zum Sein, de Gruyter: Berlin 1991, Seite 112 Die Schmerzen der Verzweiflung sind erste Wahrnehmungsindikationen. Geschlagen zu sein durch alles, was das Subjekt beeindruckt, erlaubt die Fokussierung aufs Ich. Eine Art autologische Expressivität wird von dieser Flucht ins Leben angetrieben. Die Haut, die Sinne werden endlich Pforte, Eingang, aufgebrochen zum Ich. Mit Schaum vorm Mund geht es in die Welt hinein, mit seinem Erbrochenen auf den Lippen schreibt malt der ungehaltene Körper.
„Das Bewußtsein zu dem Zeitpunkt, wo es dem gesellschaftlichen Sein am tiefsten versklavt ist, wirft sich auf, ihm in der herrischsten Weise diktieren zu wollen. Die „Idee“ ist nicht mehr als ein Reflex, und dieser Reflex tritt in besonders gebieterischer und terroristischer Form gegenüber der Realität auf.“9Bertolt Brecht, in: ARBEITSJOURNAL, Eintrag vom 12.12.40, Seite 136
Dieser dialektische Zusammenhang äußert sich darin, dass gerade diejenigen, die unter Realität (dem gesellschaftlichen Sein, der praktisch-operativen Lebenswelt) leiden, auf sie ideologisch und mit ästhetischer Rechnungsführung einschlagen. Deshalb „rein ideell“ (ideologisch, ästhetisch), weil das ideologische, ästhetische Äußern dem Verhältnis ihrer relativen Ohnmacht entspricht, d. h. weil das Verhältnis ihres Unmuts gegen ihre Ohnmacht sich nur ideologisch, ideell, in der metakommunikati­ven Ableitung spiegeln kann. Die „ideelle Form“ entspricht dem verhältnismäßig kleinen Gewicht der Teilhabe an praktisch-operativer Lebenswelt. An dem größer werdenden wirklichkeitsfremden – oder Wirklichkeit entziehenden – ideell-ästhetischen Gebaren ist die Deformie­rung der Wirklichkeitserzeugung abzulesen und spricht die Deformierung des Welt-Bezugs mit aus. Die ideologische Präsenz ist ausgeprägter als die praktische. So müssen es auch verkommene Ideen sein, wenn sie derart auf die Realität kommen wollen.

 

 

 

 

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