130, Film – Vollstreckung ohne Haft

Film: Gerade in seiner per Objektiv ein-gefangenen Welt, in seinem objektiv gesuchten Näherkommen an die technisch gedrehte Wirklichkeit, gibt der Film vor, nah an der Welt, am Publikum zu sein. Die Wirklichkeit im Film wird natürlich eingerichtet. Wer zweifelt, dass die Filmindustrie eine die Wirklichkeit bestimmende Einrichtung der Wirklichkeit ist? In ihrer Austauschbarkeit zeigen die Filmhelden – der vermeintliche Charakter wird oft im Klischee weggefilmt – wie jeder an seiner Statt sein könnte. Brecht bemerkt im Arbeitsjournal: „wie wenig durch die einfühlung in einen betroffenen zu verstehen ist.“ Die Einfühlung wird zur Anverwandlung des Publikums in den Filmstoff mißbraucht, gleich einer Fremdbearbeitung wird es in den Stoff hinein getrieben. Man reproduziert, was erwartet werden kann. Zugunsten einer außerordetlichen Begebenheit, einer Dramatik wird das persönliche Elend der Figuren, werden die persönlich erfahrenen Widersprüche im sozialen Bewegungsprozeß, in die als persönlich zu empfindende Wirkung, in die persönliche Katastrophe hinein getrieben. Der Kampf der widersprechenden Interessen, der Realitäten wird nur als Aus-Wirkung auf den Menschen gegen ihn, als zwischen ihm und anderen ausgetragen. Als lebten die Protoganisten als eigene Verursacher auf sich selbst. Weiter im Sich-selbst-verursachend darin kämpfend, scheiternd – was sonst? – zerreißen sie sich untereinander. Die Klassen­kämpfe verkommen zu persönlichen Feten, zu individuellen Fehlern (von Generalstäben, Konzernmanagern), oder zu individueller Macht, (Highlander, Terminator). Der Kannibalismus der Einfühlung (Heiner Müller) hat in solcher Unterhaltung unmittelbar kannibale Folgen auf sein Publikum.1Bertolt Brecht, ARBEITSJOURNAL, Seite 125, Eintrag vom 17.10.40: […] „2) die handlung muß >>furcht- und mitleiderregende vorgänge<< enthalten (POETIK, IX, 9). der zwang, diese oder ähnliche emotionen zu organisieren, macht das zustandebringen praktikabler abbildungen schwierig. zumindest ist einleuchtend, daß zur organisation dieser emotionen praktikable abbildungen des menschlichen zusammenlebens nicht nötig sind. die nachbildungen brauchen nur wahrscheinlich zu sein. aber die ganze suggestions- und illusionstechnik macht eine kritische haltung des publikums gegenüber den abgebildeten vorgängen unmöglich. die großen stoffe können nur auf die bühne gebracht werden, wenn gewisse private konflikte in ihren mittelpunkt gestellt werden. sie fesseln den zuschauer, den zu befreien es gilt. 3) es bereitet große theoretische schwierigkeiten, zu erkennen, daß die nachbildungen der aristotelischen dramatik (der auf katharsiswirkungen ausgehenden dramatik) in ihrer praktibilität begrenzt sind durch ihre Funktion (gewisse emotionen zu organisieren) und durch die dazu nötige technik (der suggestion) und daß der zuschauer damit in eine haltung gebracht wird (die der einfühlung), in der er eine kritische stellungnahme zu dem abgebildeten nicht gut einnehmen kann, dh desto weniger einnehmen kann, je besser die kunst funktioniert.“ Und weiter unten Seite 130, Eintrag vom 20.10.40: „immer wieder hört man in der diskussion, das drama sei doch eine ganz einfache sache, nötig sei die packende blutvolle story, gut komponiert, talentvoll und mit Kraft dargestellt, eine sache, die den zuhörer knieweich macht usw. und man überlegt, wie wenig natürlich das alles ist, wie ausgetüftelt und ausgefühlt das ist, wie es nur noch eine zweig des rauschgifthandels ist, eine standardisierte ware. aber das produkt einer historischen phase, so kompliziert und künstlich es sein mag, hat immer den schimmer des naturgewachsenen, vernünftigen, indiskutablen an sich.“
Die Suche nach Darstellbarkeit von Ohnmacht geht in Ohnmacht vor dem Dargestellten über.
Durch den Aufbau von Illusionen wird die Wirklichkeit verschoben: Örtlich und zeitlich hinaus. Das Nur-private, das außerhalb der gesellschaftlichen Praxis gestellte und sich dünkende Individuum ist ein partikuläres Gestirn auf das mit partikularen Interessen eingeprügelt, unterhaltend eingefühlt wird. Eine öffentliche Hinrichtung im Film bannt das Publikum als ein noch einmal davon gekommenes. Das Medium ersetzt die Message: Es kracht und explodiert, es macht unreale Morde möglich, füttert Machtfantasien.
Das Große muß durch das Kleine hindurch dargestellt werden können und das Kleine in seinem Stoff muß als was ganz großes dargestellt werden: Das Detail verbürgt seine Verstrickung mit allem und verweist über sich hinaus. So weit so gut.
In schlechten Filmen findet statt: Die Personifizierung allgemeiner Realität in einem Hauptdarsteller, einer Hauptdarstellerin als Hinderung, Realität allgemein zu fassen. Man zeigt die dadurch eingetretenen Einschränkungen an der Person und handelt sie persönlich aus. Die Materialisierungen der Produktionsverhältnisse, die ganze Komplexität von Gesellschaft, des menschlichen Ausdrucks sind nur als periphere Beschwerung des Darstellenden notwendig. Man klebt mit persönlichen Schicksalen, zutiefst einzeln erfühlten Leiden – welch Süße am Fressnapf – das konkret rumlungernde allgemeine Versagen zu, anstatt es für viele aufzudecken. Die Chance am Einzelnen wird gegen den Einzelnen erwirkt. Als Schein und Glitzer des Persönlichen: Die Schicksale werden als Bekleidung des Film-Stoffes gezeigt – es ist nur Kostüm. Der Hunger läuft im Pelz, die Katastrophen werden von den menschlichen Leistungen im Weltraum begleitet. Jede Bekleidung ist die Umhäutung profitaler Unterhaltung. Der bürgerliche Begriff des Privaten, der erst die ideologische Entfernung zur Gesellschaft aufgenommen hat, aufgrund der nötig gewordenen abhängigen Lebenshaltung zu ihr, setzt die Story, aber nicht das Begreifen in Gang. Diese Art der Individualisierung von Schicksal des Films ermöglicht zugleich Distanz. Man gewöhnt sich daran, stumpft ab. Große Emotionen sind industriell erzeugte Nebelmaschinen. Die Katharsiswirkung wird durch den emotionalen Sog schockiert. Das Insistieren auf individuelle Triebe, Betrübungen, nicht aber auf Zusammenhänge (der Katastrophen), Klänge, kommt nicht über die Person hinaus. Wenn die filmische Storyline aufrecht erhalten werden soll, auf Kosten eines Helden-Schicksals, müssen künstliche Gründe gefunden werden. Aus der Komödie im Film wird der Horrortrip, denn sie schirmt tatsächliche Ereignisse des Lebens ab. Sie verkleidet den Zuschauer zum Sympathisanden. Die Komödie versteckt durch das Gelächter die unterbrochene Tragödie.
Die Frage “Wer hat das siebentorige Theben gebaut?“ führt in die Geschichte seiner Zerstörung. Interessant ist: Wer hat es zerstört? Die Personifizierung der Geschichte verdeckt hinter der Fassade der „geschichtlichen Persönlichkeit“ die Arbeit aller daran beteiligten.

 

 

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