168, Fortkommen mit Paranoia
Ist „der Gang des Schicksals“ nicht ein versuchter menschlicher Beschreibungs-Wettlauf mit dem von Natur- und Gesellschaftsumständen erzwungenen Einordnungs-Terror? Die Notwendigkeit, zu erkennen, dass es „für alle nicht reicht“? Standzuhalten, erzwingt zuvorkommende Charaktere – eine Gegenbewegung, ein Misstrauen gegen die Gesellschaft entsteht: Paranoia.
Die Attacke, die Aggression als Form der Selbstdarstellung, auf sich aufmerksam zu machen, um für sich als geschichtsmächtiges Subjekt selbst zu werben.
Andererseits: Autarkie als Selbstgenügsamkeit, um sich gegen die eigenen Bedürfnisse abzudichten, um den perhorreszierten Gefahren unkontrollierten Schicksals mit dem Hamsterleben zu begegnen. Das animalische Modell des Überlebens, das Raubtier, um unter dem Schicksal der Anpassung durchzuschlüpfen. – Die Chimäre der wirtschaftlichen Unabhängigkeit erzwingt so viel Blindheit vor dem Elend, das sie stillschweigend erzeugt wie erlaubt.1Zum Begriff der Selbständigkeit und Unabhängigkeit nochmal Marx: Was mich unabhängig dünkt, ist dennoch jene Unabhängigkeit von mir; die Unabhängigkeit aller gegen mich. Die persönliche Unabhängigkeit bildet dialektisch ab, dass nichts von der Person abhängt und auf das sie dennoch (zu bezahlenden) Zugriff ausübe. Die persönliche Unabhängigkeit ist nichts anderes als die ideelle Umkehrung der Unabhängigkeit der Weltwirtschaft auf den Einzelnen. „Wie die Teilung der Arbeit Agglomeration, Kombination, Kooperation, den Gegensatz der Privatinteressen, Klasseninteressen, die Konkurrenz, Konzentration des Kapitals, Monopol, Aktiengesellschaften erzeugt – lauter gegensätzliche Formen der Einheit, die den Gegensatz selbst hervorruft –, so erzeugt der Privataustausch den Welthandel, die private Unabhängigkeit eine vollkommne Abhängigkeit vom sog. Weltmarkt“… Und weiter: „Im Geldverhältnisse, im entwickelten Austauschsystem (und dieser Schein verführt die Demokratie) sind in der Tat die Bande der persönlichen Abhängigkeit gesprengt, zerrissen, Blutsunterschiede, Bildungsunterschiede etc. (die persönlichen Bande erscheinen wenigstens alle als persönliche Verhältnisse); und die Individuen scheinen unabhängig (diese Unabhängigkeit, die überhaupt bloß eine Illusion ist und richtiger Gleichgültigkeit – im Sinn der Indifferenz – hieße), frei aufeinander zu stoßen und in dieser Freiheit auszutauschen; sie scheinen so aber nur für den, der von den Bedingungen, den Existenzbedingungen (und diese sind wieder von Individuen unabhängige und erscheinen, obgleich von der Gesellschaft erzeugt, gleichsam als Naturbedingungen, d. h. von den Individuen unkontrollierbare), abstrahiert, unter denen diese Individuen in Berührung treten.“ MEW, Band 42, Seite 93 & 97 Die eigene Unabhängigkeit von Anderen ist die Egalität der Anderen zu mir – solang sie bezahlt werden kann
Die geglückte Anerkennung der realen Zwänge aus der Sicht des Besiegten heißt Verzicht: Adaption, aus der erkannten Bedrohung wird affirmative Resignation, das unglückliche Bewußtsein wird gestärkt. Die Niederlage gewöhnt uns an den Realismus. Vice versa.
Der paranoide Anspruch auf menschliche Handlungsräume – jeder ist nicht nur potentiell Konkurrent (Verfolger), sondern auch Objekt der Verfolgung (Zielgruppen-Marketing). Unzählige Cookies verstopfen meine IP. Das persönlich produzierte digitale Abbild wird zur individuellen Zielgruppe re-transformiert. Gesucht wirst du immer, ob als Feind oder Käufer. Bedürfnisse können dir jeder Zeit unterstellt werden. Virales Marketing.2„Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren“, in: Kreation und Depression – Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hrsg. von Christioph Menke und Juliane Rebentisch, Kadmos Verlag, 2010, Seite 15
Mit der argwöhnischen Beobachtung anderer Selbste entsteht ein Datenkosmos, in dem alles und jeder adressierbar wird. In der Werkhalle des Verrats nimmt das erzeugte Misstrauen sich selbst zur Geisel. Der argwöhnische Beobachter macht vor dem Beobachter und sich selbst nicht Halt. Ein Lauern, Wuchern in den Interpretationen, den Möglichkeitsräumen, die die paranoide Konkurrenzstruktur der Warenproduktion durch sich hindurch entwirft. Sinn-Suche – ergo Produkt-Suche – wird so zur Begründungs-Metapher paranoider Annahmen. Solcher Sinn als Ausweis von Rationalität verkrüppelt im wahnhaften Selbstrechtfertigungsanspruch/-rausch gegen alles Andere: das Sinnvolle erscheint als irre Realität. Realität entsteht aus Rechtfertigungs -und Annahmesümpfen der Wachstums-Produktion – und ist persönliches Schicksal geworden. Der Auftrag von Marketing ist, dass die Wirklichkeit nur aus käuflichen Waren besteht, aus einer Welt, die nur dank ihrer beworbenen Produkte zugänglich ist. Sie als unentrinnbares Resultat jener Produktwelt darzustellen, ist Erfüllungsort ihres Auftrags. Die Paranoia der Auftraggeber besteht darin, dass die Wirklichkeit schon ein Produkt eines andern ist und viel billiger. Wenn das passiert, wurde die Zielgruppe nicht erreicht und die Werbefirma fürn Arsch. Marketing ist eine Anwendung der Ertragsziele der jeweiligen Firmen. In diesem Kalkül hat jeder potentiell Käufer zu sein oder wird als solcher mit entsprechender Einengung betrachtet – der Mitmachende hat an der menschlich erfahrenen Sinnlosigkeit der Überproduktion teil, trotz seiner eingebildeten Wissenschaft, Mitwisserschaft, Gewissheit darüber, dass er nicht erkannt werden möge unter vielen, damit er verschwinden kann. In jedem wird das Produkt zur betrachtenden Funktionale. Die Schrumpfung des Individuums zum Kunden, zur kleinsten nutzbaren Größe, soll dem Getriebe nicht ein Sandkorn sein, er möge als formbar gelten und keinen Abstand mit der ihm aufgedrückten Form deklarieren; im Recht auf Auslöschung. Die hermetische Reduktion des Einzelnen: die Bescheidenheit als Charakterausdruck für das eigene Schuldig-sein, für sich, vor sich selbst, um sich (in der kleinsten Schuld) fürs Überleben zu gewinnen und, um die Werbe-Angriffe zu überstehen. Im geduckten Gang vor den drohenden Angeboten arbeitet die Annäherung, Angleichung, Schrumpfung zum Einknicken weiter. Jeder im Zurückweichen abgegebene Centimeter bedeutet dessen Zunahme.
Einsicht durch Einkauf |
Die bürgerliche Person wird von seiner eigenen gesellschaftlichen Entwicklung besiegt; ihr gesellschaftliches Profilieren, ihre eigene Entwicklung zieht sie gleichsam aus ihrer menschlichen Haut heraus – als eine gegen sich entfremdete Person. Die aufgezwungene entfremdete Form (Produkte sind Schnittstellen für andere beworbene Produkte) wird dem eigenen Lebenskörper als fremde Funktionalität integriert. Irgendwann unterliegt diese Person ihren produkttechnisch verknüpften Wahrnehmungsweisen. Wieder gläubig geworden: Aber Gott ist ein Rechenzentrum in Palo Alto. Das Produkt-Bewußtsein wie ein Gift attackiert die Sinne zu Täuschungen über sie selbst. Der Markt frisst seine Organe: Eyecatcher. Übrig bleiben Behauptungen des bürgerlichen Ich: Dessen Augen, Nasen, Zungen und Herzen nach Ware ächzen. Der bürgerliche Traum/ Anspruch eines freien und menschlichen Ich wird durch es selbst in seiner eigenständig produzierten Ego-Wirklichkeit zertrümmert und wieder zusammengeflickt bis zum nächsten Wohlfühlkoma. Es wird dauernd in seine vorauseilenden Thesen, Träume, Notlügen, Gehorsam zurückgetrieben: Die Wirklichkeit des bürgerlichen Selbst ist eine selbstische Marketingstrategie – Truman-Show. Aus der Selbst-Behauptung sind Enthauptungen der Anderen geworden. Der bürgerliche Solipsismus als zynische Selbstbehauptung in der medialen Verformung der Selbstdarstellung entgleitet bis zur Entkörperung der Person zu zwanghaften Funktionalismen. Das auf seine menschliche Entwicklung hoffnungsfrohe mehr und mehr harrende bürgerliche Ich, wird bis zur Stilisierung seiner selbst gelähmt – in Form gebracht. Dieses Ich ist Teil der Strategie, die es selbst geschaffen hat. Es trifft nur sich selbst: Selfie.