167, Geschichte schreiben: Phrasen
Geschichte als permanente Produktion, als ein im Strudel des Beobachtens wie Beteiligtseins erachtet, nicht als ein durch das Beschreiben bediente Ereignisfolge gefasst, würde den Blick auf die Produzenten von Geschichte erlauben: Als beschreibbaren Prozess der Beschreibung und Sozialisation von Gesellschaft. Als bloße Beschreibung über vergangene Ereignisse ist sie bereits in den Spalt zwischen dem Gewesenen und der Nicht-Gegenwart des Schreibers über die (vergangenen) Ereignisse getrieben: die emphatisch nicht einzuholende zeitliche Differenz führt zu Vereinfachungen, zu lineareren Retrospektiven. Nichts ist bloßes Resultat, alles ist entstandenes Sein im Werden – hieße dann die Dienstvorschrift der Erzählung von Geschichte. Geschichte als permanente Beschreibung realer Kämpfe um Partizipation findet kaum statt: Die, die Geschichte machen, kommen nicht zu ihren Worten.1Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, in: Can the Subalern Speak? – Postkolonialität und subalterne Artikulation, Verlag Turia + Kant, 2008, Wien-Berlin, Nachdruck 2020 Geschichte als alltägliche Konsequenz millionenfacher individueller Entscheidungen lässt sich nicht auf eine lineare Ereignishaftigkeit reduzieren, denn sonst würde das Subjekt der Geschichte nur in der Blickachse des Beschreibenden existieren.
Die Ware als Produkt der Geschichte |
Im unendlichen Akt der Produktion zeigt das Resultat, das Produkt seine geschichtliche Härte gegen sein Aufhören – das Resultat der Produktion schiebt sich vor den Prozess seines Entstehens. Selbst in den entfremdeten Produkten schlägt das Herz der Geschichte – aber unhörbar die ungezählten Herzen der Näherinnen. „Wer hat das siebentorige Theben gebaut?“ (Brecht) Der akkumulative Ursprung des Produkts, der Ware, erzeugt eine unendliche menschliche Herkunft. „Nur in seinem Entstehen zeigt das Entsprungene sein Entsprungensein.“ (nach Paul Tillich) Dort – in der Herstellung von Waren wie in der dafür aufgewendeter Zeit – ist zu sehen, wie die Bewegung in der Arbeit als Entstehen des Produkts zur Entfernung von ihm wird: Die Menschen, die an der Produktion von Waren, Kommunikation, letztlich der Gesellschaft mitwirken, werden zugunsten der Resultate unsichtbar. Die Entkopplung der Produkte von den sie herstellenden Menschen ist eine Folge der Zweck-Mittel-Relation in kapitalistischen Gesellschaften: Die Monumente sollen die dafür aufgebrachten Opfer rechtfertigen, die Kunstwerke werden säuberlich von den Bedingungen der Herstellung getrennt: Mit dem Glanz der Oberflächen wird der Schimmel in den Arbeitsstuben überdeckt.
Das Resultat ist nur ein Moment im Prozess: Ein Zustand. Das Resultat ist im Prozess aufzulösen, zu entschlüsseln, als prozessuale Gestalt zu fassen. D. h. natürlich auch, dass der Prozess sich als geschichtlich beschreibbares Resultat entpuppt, sich als solcher darstellen lässt, sobald man mit der Klinge der Beschreibung einen Zeitpunkt willkürlich festlegt. Im Aneignen der gesellschaftlichen Prozesszustände – eine beste aller Welten in der Beschreibung zu erzeugen, zu manifestieren, vor zu stellen – entsteht eine Enteignung der Lebenswirklichkeit von den Menschen, die in Beschreibungen festgehalten werden. Entweder man (be-)schreibt oder macht Geschichte.