102, Sex und Sublimierung
Sex – vielleicht ein anderes Wort für das Bedürfnis nach Nähe. Die Nähe zum Fremden vermittelt jäh im Sex die stärkste Intensität. Eine Art Übersprung wie in One-Night-Stands, zahllosen Affären, ohne sich kennenlernen zu müssen. Über die Lust wird der direkte körperliche Weg zum Anderen gefunden, bevor durch das Reden, das Kennenlernen der anderen Geschichte sich eine – nun gemeinsam geteilte – Geschichte zwischen die Körper schiebt. Psychisch schon von Verlassenheit geprägt, ist auf den Körper noch verlass. Denn die Körper sind in ihrer unerfassten Fremdheit am schönsten. Man kann sich dem eigenen Körper ohne Umschweife (ohne Verantwortung für ein Davor oder Danach) hingeben. Sich loslassen. Frei von sich – der eigenen Geschichte ledig – und nah körperlich bei sich zugleich. Man will das Schöne, die Nähe, aber im Akt der Vereinigung lässt man keinen an sich ran. Die von Liebe erfüllten Gefühle spielen hier eine geringe Rolle, wenn man dem schuldlosen Körper freien Lauf gewährt. Das Begehren nach Nähe, nach dem Schönen ist schuldlos – bis der Körper seine Schuldigkeit getan hat. Nachts sind wir nah am Blut, einander aussaugend, tagsüber verkriechen wir uns vor unserer Geschichte. Dann sind wir gestillt.
Aber:
Der sinnliche Sog der Geschlechter, der die Menschen in ihre evolutionäre Prägung führt (Fortpflanzung), wird im Zuge gesellschaftlich-industrieller Intervention gefährdet, mißbraucht wie verwertet. Mit der Zerstörung der sinnlichen Welt durch ihre monetäre Verwertung, „nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu.“1Karl Marx, in: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband I. Teil, Dietz Verlag Berlin, Seite 511 Das mit der Geburt sinnlich ausgestattete Leben gerät in den petrifizierenden Schlund verdinglichender Produktionsprozesse. Die Realität der Anpassung ist nun der Verfolger, Erkenntnis ist Steinzeug, um Kompromisse herauszuschlagen. Mühe und Essen, Lohn und Hunger oder Katalogreise. Es droht die Fixierung der menschlichen Bewegung an das ihn bewegende Fließband. Es scheint, als würde die bürgerliche Gesellschaft an der Befreiung des Ästhetischen vom Ethischen arbeiten. Was noch zweckfrei, unschuldig schön ist, muß zum Markt geführt werden. Solange Menschen verdinglicht, für Marken, Brands, Unternehmens-Image ästhetisiert werden können, fließt ihr jäh eigenwilliges sinnliche Gespür ab. Die warenförmigen Statthalter der bürgerlichen Existenz sind für den Bürger „seine“ Produkte geworden, seine ihm selbst aufgezwungenen Neutralisierungen: sein Erfolg, seine Selbstverwertung. Selbst kritischer Einspruch wird wieder vom eigenen Konsum einverleibt und zugedeckt. Das ausgestattete Ich schaut in seinen Spiegel und die ihm angenähte Fratze seiner Vernutzung springt in es hinein.
Und:
Sublimierung. Die Leistungen der Sublimierung2„Die Sublimierung ist ein Prozeß der Objektlibido und besteht darin, daß sich der Trieb auf ein anderes, von der sexuellen Befriedigung entferntes Zeil wirft; der Akzent ruht dabei auf der Ablenkung vom Sexuellen.“ Sigmund Freud, in: Zur Einführung des Narzißmus, Essays I, Hrgb. Dietrich Simon, Verlag Volk und Welt, Berlin 1989, Seite 567 – als intellektuelle Kompensation beschrieben, die man genötigt ist, im Realitätswiderstand einzugehen – zeugen vom realen Einspruch gegen den eigenen Körper. Das körperlich sich lustvoll zeugende Ich erleidet die geistig-psychische Anstrengung der Kompensation seiner Verhinderung als gesteigertes Begehren, weil der körperliche Gebrauch der Lust verweigert wurde. Sublimate – als in Arbeit oder in ästhetische Ausdrucksweisen transformierte Libido – sind Ausdrücke gegen die eigenen körperlichen Ansprüche. Hier ist „die Triebkontrolle zum allgemein anerkannten Ausweis sozialer Reife avanciert.“3Wolfgang Engler, Verspielt, Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft, Verlag Theater der Zeit, 2012, Seite 158
Wie in einem Traum eines sich lustvoll vollstreckenden Körpers lebt der gesellschaftlich konform gemachte Besitzer fortan: als ein von den pflichtgemäßen Forderungen geentertes Schiff im Sturm seiner Seel. Gegenüber dem Naturwesen hat der Mensch die Möglichkeit, seinen Triebanspruch zu intellektualisieren.4vgl. Herbert Marcuse, in: Triebstruktur und Gesellschaft, Suhrkamp, Seite 9 (Einleitung) Die erzwungen psychischen Ablenkungen machen den Weg frei für den Eiter, der auf Kultur getauft wird, bis zum Altar, quer durch allen Hochglanz führt die Spur – an der Basis ein Selbstmord, im Überbau ein Ideal oder eine Filmgeschichte – der Mann hat alles gegeben. Was wir Kultur nennen, kündigt vom Sportsgeist, der das Abwichsen sprachlich honoriert. Vielleicht entspinnt sich der ontologisch befestigte Zweifel aus ideologischen Trennung von Intellekt und Körper. Eine kulturelle Verteidigung der Individualität durch die Verwüstung der Individuen? Kunst als eine Verteidigung des Leidens, um nicht in Barbarei zu fallen?5„(…) das leiden hat die kultur geschaffen; so wird wohl barbarei entstehen, wenn das leiden abgestellt wird?“ Bertolt Brecht, in: Arbeitsjournal, Eintrag vom 18.8.1942