14, Abbilden, Ansichtssache

Durch meine Abbildungen rücke ich mir meine Wirklichkeit ins Bild – in einen Ausschnitt. Ich kann sehen, was ich sehen will. Ich bilde Wirklichkeit durch meine Ab-Bilder von ihr. Meinen Blick auf die sogenannte Wirklichkeit bilde ich ab bzw. nach. Was ich sehe, blickt mich an.1Ein wichtiges Buch zur Dialektik des Sehens: Georges Didi-Huberman in: Was wir sehen blickt uns an – Zur Metapsychologie des Bildes, Hrsg. Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle, Wilhelm Fink Verlag München, 1999

2Fotocollage, 1997, © Hans Geog Köhler

Ich-Wirklichkeit wird vollzogen, konstruiert durch eine ästhetische Verrückung, Ver-Wirklichung der Wirklichkeit – durch den Akt der Festlegung eines Ausschnitts und durch das selbstgeschaffene Ausdrucksmaterial aus der Wirklichkeit selbst. Persönliche Ver-Wirklichung ist Ent-Wirklichung, stets Ent-Rückung von anderen möglichen Weltansichten. Ich ent-nehme der Wirklichkeit meine Bilder und ver-wirkliche dadurch meine Wirklichkeit. Langsam, mehr und mehr wird meine Umwelt mit meinen Abbildungen versehen, übersehen, überklebt, überlagert. All das, was als Rohstoff meiner Blicke dient, um sich der Welt wiedergebend auszudrücken, wird ins Abbildhafte überführt, denn in der Fixierung kann es erfasst werden. Der gemalten Sonnenblume, der Seerose, Klosterruine in Oybin kann ich die Wünsche meiner Weltdarstellung offenbaren – wenn ich sie in ein Bild gepresst habe. Die Welt wird mir erst wirklich, wenn sie – durch ein gestaltbares Medium – ausgedrückt, d. h., wieder-gegeben werden kann. Das Ausdrückbare/ Kommunizierbare in meinem Welt-Abbild entsteht durch den Unterschied zwischen meiner Welt-Abbildung und anderen, möglichen Welt-Abbildungen. Unsere verschiedenen Abbilder, Ansichten sind Voraussetzung, um über das, was Welt sein kann, zu kommunizieren. Wir sprechen, streiten, einigen uns, weil wir Teile einer Welt sind – als egoistische Puzzlestücke.
Wenn ich mich in den Abbildern nur selbst suche und keine Welt mehr darin erblicke, wenn die durch Abbilder gewährte Fixierung sich zur Fixierung auf bestimmte Abbilder entwickelt – ist es dann ein Tic, ein narzisstischer Käfig?

Wir definieren uns aus formalen, ausdrucksmäßigen Decodierungen des Wahrnehmungsmaterials, aus anschaulichen Formen der Differenz – oder einfacher: aus der Konstruktion eines Bildes, eines Satzes, als sinnlich vollzogene Nachstellung von Welt. Wir müssen reden! Oder malen. Ein Bild, Foto, Audiotape ermöglicht fassbare Nähe, konkretes Vorstellen; es reduziert die Distanz, macht das jeweilige Weltstück eines anderen greifbar. Jedes verwirklichte Bild ist eine Konstruktion, eine Verwirklichung des Bildproduzenten. Die (künstlerisch) abgebildete Gegenständlichkeit der Welt verspricht einen Rückgriff auf einen sinnlichen Körper-Zustand und eine An-Maßung, Bemessung des Akteurs auf sein Gegenwärtig-Sein. Abbildungen sind Verkörperungen meines Blickes auf die Welt. Kunstwerke sind Blickspeicher, sie dauern, sie vergehen nicht mit dem Augenblick, denn sie halten den Kontakt mit dem ursprünglich unmittelbaren Vorgang des Erblickens, Ergreifens, mit dem Da-gewesen-sein.

Spiegel – verkehrte Welt?

Der Blick in den Spiegel als eine erste Erfahrung des eigenen Abbilds. In diesem flachen Spiegelraum kann ich mich sehen, im Tausch der Seiten, seitenverkehrt, als Ausschnitt. Über Spiegel-Bilder wird Wirklichkeit als Different-Sein zwischen Blick-Varianten der Nähe oder Ferne reformuliert. Die Welt, wie sie im Spiegelbild erscheint, stellt nicht nur einen Ausschnitt dar, vielmehr noch ein (in die Spiegelfläche) Eingeschnittenes. In diesem Rahmen, in dieser Weise des Hineinschneidens wie Reduzierens meines Blickes in die globale Welt kann ich sie partiell sehen und sehe zugleich meinen Blick in ihr. Wieder dient der Spiegel als Metapher einer Weltrekonstruktion, die man sich aus farbigen Schatten vorstellt und durch Spiegelbilder zusammenträgt, erschließt. Über Spiegelgestalten entsteht so eine Erzählung über die Welt, die durch deren abbildliche Rückkopplungen (Rückschlüsse) emphatische Vorstellungen über Wirklichkeit erzeugen hilft. In der erfahrungsgemäßen Rückkopplung auf Gewußtes wird eine Umwelt trotz vorhandener Differenzen zum Ich-Beobachter rekonstruierbar. Der Erfahrungszusammenhang, der aus Wahrnehmung, Rekonstruktion, Analyse und Interpretation entsteht, kann anderen Bewertungsmodellen unterzogen, d. h., in andere formale Ausdrucksebenen transformiert werden. So ist es in der Psychoanalyse Praxis: hier können die Interessen, die Intentionen, die einer Erfahrung, einem Trauma, einem Traum zu Grunde liegen, bildvoll dargestellt und daher sprachlich decodiert werden. Individuelle Welt-Abbildungen sind für andere Weltensichten, Interpretationen erschließbar, weil der andere Blick den eigenen herausfordert und sucht.

Alles Abbilden ist intentional. Das Intentionale des Handelns, das sich ausdrücklich – in Körpern, Sprache, in Sprach-Bildern, – niederschlägt, bricht in Texten, Bildern als erfahrene Wirklichkeit aus ihr wieder heraus. Selbst wenn Abbilder einen spezifischen Blick aus der Welt destilliert haben, können sie ihr Vor-Bild, ihren Blickwinkel, ihre eingenommene Position zur Welt nicht verbergen.
Die sinnliche, ästhetische Materialisierung – Formung – der Abbildungen und Einbildungen über die Welt führt schließlich zu Veränderungen in der Wahrnehmung von Welt. Die Insassen der Welt entfernen sich von ihr durch die Abbilder, die sie sich von ihr machen. Die Abbilder beginnen ein Eigenleben, schaffen Kontexte selbständiger, sich selbstverstärkender Weltansichten.

Naturalistische Verzerrung
Die Verrückten, die Künstler sind Spezialisten, eine eigene Welt aus einer anderen heraus-zu-rücken. Es ist kreativ, Realität durch formale Veränderung ihres Abbilds neu zu besetzen. Erfahrene Realität – als Abbild, Wissen, Gestalt festgesetzt, transformiert – wird gegen den Einfluss der Realität ausgespielt, mit den aus ihr gewonnenen (künstlerisch aufgebohrten) Abbildungen konfrontiert, überschrieben, erweitert. Der Umwelt – als eigener Erfahrungsbereich – werden Abbilder aufgezwungen, die sie verändern.
Ein (Ab-)Bild ist eine andere Realität. Es ist aus der Welt genommen, entwickelt. Man kann sich nicht auf die Wahrheit des Sehens verlassen, indem man das Gesehene abbildkonform – treu der Oberflächen – wiedergibt. Wiedererkennbarkeit als bloße Qualität gefasst, ist nichts, sie feiert Seh-Muster, nicht Erkenntnis. Naturalismus in der Kunst ist kein Realismusersatz.3Vgl. Bertolt Brecht in: Arbeitsjournal 1938 – 1955, Hrsg. Werner Hecht, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1977, Seite 423, Eintrag vom 30.3.47Ähnlichkeiten von Abbildungen mit ihren gegenständlichen Vorbildern als realistisch zu titulieren, verzerrt nicht nur die abgebildeten Gegenstände, sondern auch den Bezug des realistisch-seins zu individuellen Erfahrungen. Eine Abbildung über Realität ist eben nicht real, sondern erzeugt eine neue Ansicht zur Realität. Das formal-ästhetische Erfinden von glaubhaften Zusammenhängen zur Realität im Kunstwerk anhand analoger Verweise auf sie, ist natürlich nur ein formales Experiment, um in symbolisch-formaler Verwandtschaft zur Realität sie selbst zu domestizieren. Hier blickt Erfinden aufs Fangen. Wir erfinden kleine große Welten in Bilden, Texten, Gesten, um die Welt zu verstehen, aus der wir kommen, um vielleicht mit einer Inszenierung eines Anfangs, eine mögliche Geschichte uns selbst erzählen zu können. Verstörend daran ist, als Akteur der Beschreibung zugleich das Objekt der Beschreibung zu sein. Dieser Riss macht uns aus. Das, was dazwischen passt, ist real, Licht oder Schmerz. Wirklich ist, was weh tut. Dieser realistische Schock führt nicht zur Erstarrung der Beschreibung noch des Beschriebenen, denn aus der immanenten formalen Fixierung dieses Spalts wird der ästhetische Schrecken in Bildern, Gesten, Ausdrücken abgeleitet: als Leiden, als gefundene Form, als Bildentwurf, als Pirouette, als Form einer möglichen Differenz zu anderen Formen, die dadurch wieder wahrnehmbar, beschreibbar werden. Der Ideengehalt eines Bildes, eines Ausdrucks, einer Skulptur wird nicht durch den Augias-Stall bloßer Abbildlichkeit geleitet, sondern durch den eigenen Körper des künstlerisch Schaffenden erlangt die aufgefangene ästhetisierte Form eine bildliche Realität. Bildliche Realität als gefundene Differenz, als gemaltes Modell von Differenzierung. D.h., dort, wo ich Differenz (Leiden) in Form bringen, ausdrücken kann, kann ich zugleich die Differenz (das Leiden) als Form beschreiben. Im Bild, im Kunstwerk liegt diese Differenz mir vor. Durch mich kann ich sie sehen. Also was heißt dann Realität? Was kann gesehen werden?

Sich in Realität/ Wirklichkeit zu finden, zu emanzipieren, heißt, sich in ihr von ihr zu differenzieren.

Der Widerspruch, dieses alltägliche Drama – sich nur in der Realität (Umwelt, Gesellschaft) sich gegen sie individualisieren zu können, ist der Motor von Kreation.

Die Transformation der Differenz von mir zur Welt in die Bilder, Texte hinein entspricht dem empfundenen und herausgearbeiteten Zwiespalt des malenden Körpers (im Beschreibungsakt) zum erblickten Objekt (Beschreibungsobjekt). Das ist Empfindung: wenn der sinnliche Blick zur Form gerinnt.
(Analoge) Ähnlichkeit – die verführende Gewähr auf gesellschaft­liche Referenzen durch deren symbolische, metaphorische Nach-Bildung. Der (künstlerische) Realismus wird so zur Re-Projektion einer Idee von Realität: Das Bild stützt stürzt sich auf seine Ableitungen, das reale Reservoir seiner Umwelt und ist zugleich ihr Objekt. Man kann diese Mauer – Subjekt der Beschreibung und zugleich Objekt der Beschreibung zu sein – schwer durchbrechen. Jeder neue Meißel, um die Realität zu behauen, verweist auf die Hand, die ihn hält, auf den Blick, der ihn führt.