118, Medusa & Perseus im Spiegel

Die Spiegel-Metapher in der Perseus-Geschichte, in der er gegen die einzig sterbliche Gorgone Medusa kämpft und sie – da ihr leibhaftiges Angesicht tödlich ist – in seinem spiegelnden Schild abbildlich einfängt und stellt, erinnert mich daran, dass ein Spiegelbild eine Art existentielle Fixierung der Zeit für die im Spiegel gebannten Betrachter darstellt. Das Wiedererkennen im Spiegel als Dopplung der Person zum Preis ihrer Vernichtung. Das Interessante am Spiegel ist dessen Stopp: Nichts geht über den gegenwärtigen Moment des Anblicks der Abbildung hinaus: ein spiegelndes Schwarzes Loch; wende ich mich ab, sehe ich mich nicht wider. Dass Perseus ein Schild trägt, das ihm in dessen reflektierender Oberfläche den Ort von Medusa zeigt, erzählt von dieser Ambivalenz. Die Interpretationen im Zusammenhang mit Medusa sind vielschichtig. Ihr Angesicht – so der Mythos – wäre für Perseus tödlich. Der Blick auf die weiblich gebärende und aus Weiblichkeit geborene Schönheit risse ihn in den versteindernden Bann des Schönen. Davor mußte er sich schützen. Eine Folie für den Übergang des Matriarchats zur narzisstischen männlichen Herrschaft. Als konkrete Geschichte berichtet sie vom Verschwinden durch ein Gesehen-werden, worin das Subjekt sich wieder-erkennt, das es herausreißt aus der solipsistischen Nische und ans Licht zerrt bar jeder Deckung. Wie ein Erschrecken. Es gibt auch ein Gesehen-werden-wollen, worin sich die Projektionsarbeit (wie ein Anderer den Ich-Projektor sehen könnte) des Subjekts an der spiegelbildlichen Oberfläche entspinnt, worin es an der Imagination des Anderen der selbstischen Wahrnehmung willen arbeitet, um durch das Sich-außer-sich-stellen selbst im Blickfang zu sein. Diese imaginierten Anderen sind maskierte Diener. Perseus beobachtet Medusa über die Beobachtung des tötenden Spiegels. Beide Blicke treffen im unbeteiligten dritten Beobachter – den Spiegel – aufeinander. Er arbeitet mit einer kybernetischen Täuschung, indem er die Beobachtung 2. Ordnung einnimmt. Er verlässt damit die unmittelbare Kampfzone. Die tödliche Kampf-Situation wird zugunsten einer fixierenden Beschreibbarkeit verlassen – im Abbild wird das Ereignishafte, die Zeitlichkeit aufgelöst. Perseus beginnt zu kämpfen nach der Beschreibung (= der Fixierung seines Gegenstandes). Seine Möglichkeiten sind dadurch vielfältiger, weil er sich jetzt selbst als beobachtbar im neu geschaffnen Kontext verorten kann: seine Position wird ihm durch den Spiegel vermittelt ohne direkt im Kampf sein zu müssen. Das drohende Nichts, die Petrifikation im Angesicht der Seinsmächtigkeit von Medusa, wendet er gegen sie. Das Befangensein im Banne des Schönen, wird durch dessen Beschreibbarkeit, Ab-Bildung aufgehoben. Er stellt sich nicht, er stellt ihr nach; versteckt sich hinter ihrem Abbild. Sein Spiegel war ihr Feind-Bild. Das Schild der Spiegel drang tödlich in sie ein.

1Im Film „Matrix“ von 1999 wird Neo von der Scheinwelt in einem Entkopplungsritual getrennt. Er sieht sich im Spiegel, berührt ihn. Danach löst sich der Spiegel auf und bemächtigt sich der gerade in ihn hineinschauenden Person/ Neo und überdeckt den Körper bis schließlich die Spiegelmasse in seinen Mund/ Körper hineinfließt.

Wie kann man der Beobachtung entgehen, um nicht erfasst zu werden? Als gelte es, nicht entdeckt zu werden? Als würde das eigene Angesicht in den Spiegelkammern der Beobachtbarkeit gleichsam enthauptet werden. Kann man dem Gesehen-werden ausweichen, indem man vor dem Sichtbaren schwindet und nichts von sich zu anderen Augen kommen läßt? Die Nacht als Konserve des Überlebens.

Verbreite deinen dichten Vorhang, Nacht!
Du Liebespflegerin! damit das Auge
Der Neubegier sich schließ‘, und Romeo
Mir unbelauscht in diese Arme schlüpfe. –
Verliebten g’nügt zu der geheimen Weihe
Das Licht der eignen Schönheit; oder wenn
Die Liebe blind ist, stimmt sie wohl zur Nacht. –
Komm, ernste Nacht, du züchtig stille Frau,
Ganz angetan mit Schwarz, und lehre mir
Ein Spiel, wo jedes reiner Jugend Blüte
Zum Pfande setzt, gewinnend zu verlieren!
Verhülle mit dem schwarzen Mantel mir
Das wilde Blut, das in den Wangen flattert,
Bis scheue Liebe kühner wird und nichts
Als Unschuld sieht in inn’ger Liebe Tun.(Shakespeare, Romeo & Julia, Dritter Aufzug, Zweite Szene)

 

Dementia praecox I
Die Furcht, ans Licht gezehrt zu werden, folgt dem Gefühl, die eigene Sichtbarkeit zu begründen, gar zu rechtfertigen. Man kann sich gegen andere retten, wenn kaum Lebendiges zur Sicht geboten wird: wenig Angriffsfläche. In der Tendenz ist dieses Verschwinden eine unendliche Annäherung ans Nichtsein: dem Verschwinden wird mit der Reduzierung von Sichtbarkeit oder Nahrung (wie im Hungerstreik) die drohende Qualität genommen. Es ist ein Paradox: in der Angleichung ans Gerade-noch-nicht-Tote soll das, was noch als Lebendiges sterben kann, so klein wie möglich sein. Mit der Einschränkung der Lebendigkeit – der Reduzierung des Stoffwechsels, die Stoffe, die Kleider nicht zu wechseln – wird versucht, zu überleben. Es ist eine Bewegung in der Nähe zum dichten Schweigen, um den sprachlichen Abfluß ans Nichtsein zu verlangsamen. Das lebendige Schweigen vereint das erfahrene und vorweggenommene Nicht-gesehen-werden, das Lauernde und das Nicht-gesehen-worden-sein, das geglückte Ausweichen vorm Licht. Personae. Maske gegen das Sein. Aus dem verhassten Todsein wird die Kraft eines kaum lebendigen Nicht-sterben-wollens gezogen. Esse non percipi.
Ich wurde nicht gesehen und das war mein lebenserhaltendes Unglück. Ich habe mich darin eingerichtet, so dass es nicht auszuhalten wäre, würde ich gesehen.
Dem Nichtgesehenwerden (Negation des Ichs) begegnen mit Nichts-sehen-wollen (Negation des Allgemeinen, Öffentlichkeit) – Hände vor den Augen. Rückzug. Da arbeitet eine große Kränkung bei denjenigen Menschen, die sich genötigt sehen, gesehen zu werden. Künstlerischer Solipsismus als Lebensreserve? – Oder als neurotisches Symptom: Ich soll ein Schwert sein gegen die Phobie des Verschwindens. Die Behauptung des Ich schon Kompensation, Regulierung der Defizite.

 

 

 

 

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