4, Das narzisstische Urteil

Was das spekulative, sich selbst narzisstisch projizierende, sich durch fremde Selbst-Beobachtung ausgehöhlt enervierende Ich durch die antizipierten oder vorgestellten Blicke der Anderen sieht, zu sehen glaubt: es sind die gestohlenen Augen der Anderen, mit denen das narzisstische Ich auf sich selber starrt. Als Schlund wie Öffnung ist das ersehnte, erkaufte Gesehenwerden eine Bohrstelle nach Aufmerksamkeit. Selbst die physischen Qualitäten der Phänomene werden bestritten – die schöne Blume wird neidvoll erblickt. Wenn die Welt sich nur mit den Blicken der Narzissten entdecken lässt, ist sie verloren. Überall Spiegelsplitter des Aussaugens und Erschauerns. Die im Zusammenprall mit (Konsum-)Phänomenen zum narzisstischen Körper verdichtete Grenze des Ich, ist das bevorzugte Absatzgebiet industriell erzeugter psychischer Mangel-Zustände. Die Medikamente zur work-life balance dienen der Verhärtung, stabilisieren die Norm und treiben das narzisstische Karussell kapitalen Konsums voran. Sie dämpfen die Zweifel. Die Flucht in das narzisstische Spiel der Selbstbeschäftigung mutet wie ein Mit-Spielen aus Selbstschutz an. Die Haut ist die Schnittstelle, wo Produkt-Kolonisation und Ich-Verteidigung (Selbstdarstellung) zusammentreffen:

Nike-Werbung1Nike-Werbung, Hank Williams (USA), Courtesy of the artist and Charles Guice fine art photography

Als die gesetzgebende Ver-Dichtung der Arbeit zur Diktatur rasend die Häute erreichte, konnte das ehemalige Individuum zu einer Zahlenkolonne unterm Oberarm abgeleitet werden, während sich die herfallende Meute sich in eitle Uniformen schickte. „Die kapitalistische Entwicklung führt das Individuum zu einer neuen Höhe subtilen Selbstbewußtseins und zu einem raffinierten Reichtum von Subjektivität, macht aus ihm aber zugleich einen räuberischen Egoisten.“2Terry Eagleton, in: Ästhetik: Die Geschichte ihrer Ideologie, Verlag J.B. Metzler Stuttgart, Weimar, Seite 230

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