143, Ich ist einer von mir – Ich und wir anderen

Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozial-affinen Gruppe, Strömung, Partei etc. wird erhalten, indem innerhalb der Gruppierung Unterschiede zu anderen festgehalten, geleugnet oder abgearbeitet werden. Von hier an ist Identifizierung, im Sinne des Vergleichens, mit dem anderen Gruppenmitgliedern möglich, aufgrund der Übereinkunft über die Kriterien, die die Mitgliedschaft in der Gruppe definieren. Es ist eine Identifizierung durch Abgrenzung und Vereinnahmung zugleich. Diese Selektionen – einschränkende Differenzierungen – erzeugen eine dynamische Abgrenzung gegen andere Gruppen, um sich als System gegen andere Systemkriterien abzuschotten. Feindbilder gemischt  mit Opferattitüden sind stabilisierend. Das homogene Auftreten nach Außen hin folgt ent-individualisierter Einordnung unter das durch Gemeinsamkeit gewährte Schutzbedürfnis zur Aufrechterhaltung der Existenzsicherheit des Ich. Gegen die Welt da draußen. Die Erfindung des Terrors von Außen  entwickelt sich rechtfertigend zum Terror nach Außen und zum Inneren (zur Disziplinierung der Gruppe). Die Erpressung des Einzelnen im Sinne der Bindung an die Gruppe, das Kollektiv zur Überlebenssicherung. Rekrutierung von Gruppenmitgliedern, um das vorab definierte System aufrecht zu erhalten, bedeutet für die einzelnen Mitglieder Depersonalisierung, Deindividuation. Man schachert sich zusammen, um der vervielfältigten Angst >>allein zu sein<<, Herr zu werden. Der Überlebenswille des Einzelnen nimmt den Charakter kollektiver Gewalt an. Dessen gruppendynamisch-legitimierter Schein verdeckt seinen Terror gegen die unübersichtliche Welt.

Permanente Liquidierung des Ich
Die Besonderheit des Individuums ist nur noch ein Rest, oder der kleinste Nenner und wird als Differenz zu anderen Gruppen vorgetragen. Die mutmaßlich erlittene Ablehnung der Außenwelt mündet im überbordenden Selbst-Zuspruch des Abgelehnten: Die eigene Überhöhung bis zum Größenwahn ist stets gegen die Außenwelt gerichtet. Die Ich-Idealisierungen sind Zeichen des Mangels an Welt und deren Abwehr.1Vgl. Sigmund Freud, in: Zur Einführung des Narzißmus, Verlag Volk und Welt, Berlin 1989, 2. Auflage, Seite 547
Je größer der geographische Maßstab der Abwehr, desto allgemeiner der ideologische Nenner. Die Differenz wird zur Motivlage überhaupt stilisiert und damit wird sich bestimmter Zeichen bemächtigt, die symbolisch zur ideologischen Mystifikation einer Identität aufgeladen werden. Zur Identitäts-Beschwörung innerhalb einer Gruppe bedarf es oft eines Mals der Kennzeichnung: eines Brandzeichen in der Herde. Nicht im Menschen, aber in der organisierten Interessenlage kommen die Ideen zur Erfüllung, erreichen sie das Schmetterlingsstadium, bekommen sie die theoretisch „vorausgesagte“ Kraft. Träger des schöpferischen Prozesses in solcher Gesellschaft ist nicht das Individuum, sondern die Schlachtordnung.2„Man wird eine Eigenschaft, die man vor allen anderen für das Kennzeichen des Deutschen hält, nämlich die Ordnung, immer zu gering einschätzen, wenn man nicht in ihr das stählerne Spiegelbild der Freiheit zu erkennen vermag. Gehorsam, das ist die Kunst zu hören, und die Ordnung ist die Bereitschaft für das Wort, die Bereitschaft für den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis in die Wurzeln fährt. Jeder und jedes steht in der Lehensordnung, und der Führer wird daran erkannt, daß er der erste Diener, der erste Soldat, der erste Arbeiter ist. Daher beziehen sich sowohl Freiheit wie Ordnung nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Staat, und das Muster jeder Gliederung ist die Heeresgliederung, nicht aber der Gesellschaftsvertrag.“ Ernst Jünger, in: Der Arbeiter, Herrschaft als Gestalt, Cotta’s Bibliothek der Moderne, Seite 15
Der Mangel an Seinsgewissheit (Existenznot, alltäglich eindringende Notwendigkeiten des Lebens) produziert Sicherheitsbedürfnisse, Geborgenheitsansprüche… wie er sie expropriiert. Es heißt, für sich Unwesentlichkeit zu beanspruchen, legitimiert die nicht erforschten Argumente der Auflehnung. Als böte sie Schutz vor den mit Einsicht zu brechenden Dämmen der Verzweiflung, vor Gedankenarbeit.
Die Verallgemeinerung des einzelnen Menschen in der gesellschaftlichen Schlachtordnung wird in jedermann hinein durchgesetzt. Der Auslöschungszwang des Anderen durch den gestörten Selbstbehauptungsdrang findet Platz in der eigenen Ethnisierung oder in der Gruppen-Bildung. Der Geist bleibt hier ein Beiboot voll mißbrauchter Rationalität.

Disziplin
Die zusammengeschnürten Abwehr-Verbindungen in Gruppen, Parteien sollten Ausweis dafür sein, dass die ehemals einzeln sich gerierenden  Teilnehmer als ‚Ich‘ aufgegeben haben. Die sich einer Gruppenideologie Angehängten müssen sich als Individuum aufgeben, um für sich Individualität anzustrengen, wirklich freier gesellschaftlicher Mensch zu werden (geselliger Mensch). Der Gang zum menschlichen Wesen wurde abgebrochen für ein Reglement von fester Struktur und Einsicht in disziplinierende Notwendigkeiten. Die Außenwelt, „mit der das Ich sich durch Verdrängungs-Leistungen arrangieren muß.“3Klaus Heinrich, in: Dahlemer Vorlesungen, Band 7: psychoanalyse, Seite 181 ist für dieses Individuum nicht mehr haltbar, oder ist für es zusammengebrochen. Zur Absicherung des Überlebens ist eine formale Einheit, ein funktionelles Dasein einzurichten, um im verstörenden oder sonst wie psychisch sich ausdrückenden Leben, einen Zusammenhang zu finden. Wenn es heißt, „die formallogische Evidenz besteht in dem Zwang zur Disziplinierung des Bewußtseins…“,4„Die formallogische Evidenz besteht in dem Zwang zur Disziplinierung des Bewußtseins, die auf das Bestehen von Sachverhalten, d. h. von Fällen gerichtet ist, die als solche unter der Bedingung der Regelhaftigkeit im Gebrauch von Strukturinvarianzen stehen.“ Bruno Liebrucks, in: Über einige transzendentale und einige dialektische „Implikationen“ der formalen Logik, in: Philosophie als Beziehungswissenschaft, Festschrift für Julius Schaaf, Hrsg. W. F. Nibel und D. Leisegang, Frankfurt a. Main 1971, Seite 11, 12 dann heißt das auch, dass die Disziplin dafür selbst eine Konzentration auf das formal Abgesicherte benötigt, und dass das Bewußtsein eine Evidenz (einen Halt) durch die formallogisch erzeugte Disziplin erfährt. D. h., dass die Dinge, Gegenstände, Arrangements für ihre kontextuell bezogene Betätigung diszipliniertes Verhalten fordern. Abgesehen von Dienstvorschriften aller Art, die die Menschen in ihrer Zwangslage zusätzlich befallen, ist die Konzentration auf formale, streng strukturierter Arbeits- und Lebensstrukturen zu beobachten, die der Disziplin bedürfen, um das Leben mit den aufgeworfenen Forderungen doch noch zu meistern. Wo Disziplin gefordert wird, herrscht Gehorsam als die verinnerlichte Struktur kalkulierter Produktionsprozesse. Die Reduktion auf formal Redundantes als Technik gegen die Außenwelt. Das (soziopathisch) gestörte, jedoch disziplinierte Selbst kann sich noch durch das formallogische, oder rationalisierte Bezwängen der Umwelt, also gegen sie auftretende widerständige Ereignisse, Luft verschaffen. In dem festgefrorenen Gitter festgesetzter Phänomene findet es sich zurecht, in disziplinierter eo ipso geordneter, variationsarmer Welt. Anstatt zum vielfältigen Leben führt die Selbst-Unterordnung, die selbst auferlegte Reduktion von Lebenstechniken zur Versklavung des persönlichen Lebens: Diese Person bringt sich als formalen Aspekt, als ein funktionierenden  Anker in das Leben ein. Sie vollstreckt damit eine Lebensordnung, die das Problem verstärkt. Die Vereinnahmung alltäglicher Vorkommnisse, aller Welts Zeug unter allgemein abgesprochenen Kontexten – Kulte, Rituale, Rationalisierungen – arbeitet das dafür geopferte, aufgegebene Leben als ein vorweggenommenes heraus.5[der] „Normalzustand des angepaßten und ewig gehorsamen Bürgers. Dies ist ein Seinszustand, in dem der Mensch jedem Aspekt der eigenen Erfahrung, jedem spontanen Aktionsdrang, jedem bisschen Körperbewußtsein von sich selbst (im Gegensatz zum Bewußtsein, daß die Welt von unserem Körper hat) und allen Möglichkeiten sich anbahnender Verwandlung so sehr entfremdet ist, daß man ihn allen Ernstes und ohne metaphorische Umschreibung als verrückt ansehen darf. Die meisten Menschen in der Ersten Welt unterwerfen sich dieser permanenten Liquidierung ihres Ich mit nur schwach vorgebrachtem und rasch wieder vergessenem Protest.“ David Cooper, in: Der Tod der Familie, Rowohlt, Seite 15 Doch wüsste jeder Angehörige einer Gruppe gern um seine hieraus erwachsende menschliche Schuld und Aufgabe.6vgl. Paul Tillich, in: Der Mut zum Sein, Seite 46, 55 ff und bes. 113 Der Zorn, das Tierische in manchen Abwehrreflexen versus „alles andere“, das auf den Abwehrenden Dringende (und wohlmöglich Aufdeckende), zeigt den Versuch, sich gegen seine Bestimmtheit zu wenden. „Eine tiefe Zweideutigkeit, die Verflochtenheit von Gut und Böse, durchdringt alles, was er tut, denn sie durchdringt sein persönliches Sein als solches. In seiner moralischen wie in seiner geistigen und seiner ontische Selbstbejahung ist Nichtsein mit Sein gemischt. Das Bewußtsein dieser Zweideutigkeit ist Schuldbewußtsein. Der Richter, der er selbst ist und der gegen ihn selbst steht, er, der alles „mitweiß“ (…), was er tut und ist, fällt ein negatives Urteil, das von ihm als Schuld erfahren wird.“7vgl. Paul Tillich, in: Der Mut zum Sein, Seite 46

Nur die eigene Wahrheit – die verheimlichte vor sich selbst, die Wahrheit, die mich vor mir selber schützt – erlaubt, weiter zu leben. Sie wird mit Zähnen, Stöcken, Hunden und Mitgliedszwang verteidigt. Uniformität in Gesten und Kleidung bedeutet deshalb auch eine Maskierung und Demonstration gegen die im Maskenträger aufgegebene individuelle Existenz. Sie ist die Erinnerungsschleife jeden Tag im Spiegel an das Geknete.

 

 

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