230, Spektulation und Furcht – paranoide Konkurrenzen

Preppers choise
Die durch den Produktionswettbewerb geforderte wie geförderte Annahme einer steten Konkurrenzsituation inmitten der Gesellschaft: als ein individualisiertes Gefühl eines allgegenwärtigen Verfolgtseins von gesellschaftlichen Konkurrenten, ob von der Überwachungskamera, von Radiowellen, von vermeintlichen Verschwörungen oder ihren Theoretikern oder von der Unternehmenschefin: die kapital-paranoide Ideenmaschine braucht den drohenden Untergang internalisierter Lebenskonstrukte als Treibstoff zum Fortkommen. Dieser fatal internalisierte Wettbewerb – gegen jeden und alles bis zur universellen Möglichkeit, dass alles geht – setzt ein mit Erkenntnis und Phantasie begabte wie spekulierende Person voraus und seine Furcht, sich zu verlieren. Das mögliche berufliche Scheitern definiert die Angst und den (psychotischen) Einsatz der Mittel. Mehr und mehr wird verkörperlicht, was einmal nur auf einer Vorstellung, Spekulation fußte. Die von Konkurrenz gehetzte Person setzt sich mit seinen angstbesetzten Vorstellungen praktisch spekulierend in eine andere (zukünftige) Gegenwart, sie gräbt sich unterirdisch aus ihrem gegenwärtigen Leben, aus ihrem furchtgebundenen Hier-Sein: Angefüllt mit Vorräten im Beton gewappnet – preppers choise.

Die pathogen spekulative Person setzt sich mittels ihrer – in die selbst konstruierte Realität gesetzten – Annahmen als klüger voraus, um gegen das Hier und Jetzt zu sein, um sich in der angenommenen, vorgestellten Realitätssphäre überlegen gegen andere zu wähnen. Ja, es ist, als ob eine Vorstellungswelt mit allen möglichen, unmöglichen Annahmen konstruiert werden würde, nur, um so vehementer gegen diese – erfundenen – Konstrukte sich zu positionieren. Wenn die eigenen Annahmen über Realität zweifellos erscheinen, so kann man aus (selbst-)versicherter Position gegen den anderen Zustand, den man selbst „ausgemacht“ hat, richten. Der Paranoiker verschwört sich gegen seine gegenwärtige Wirklichkeit, um seine angenommene zu retten. Das Wort „annehmen“ drückt zwei Seiten aus: Zum Einen in der Bedeutung von Vorstellen, Spekulieren (ich nehme an, dass Person E nicht zu Person F zurückkehren wird)  – also ein vorgestelltes E zieht ein F – scheinbar – nach sich. Und zum Anderen, annehmen als entgegennehmen eines Gegenstandes (z. B. ein Paket, ein Geschenk) bzw. das Hereinnehmen eines Etwas in den körperlichen Nahbereich. Der stete Versuch, Überblick zu gewinnen, besser noch Kontrolle über die eigene Arbeits- oder Lebenssituation zu erlangen, geht einher mit dem Verlust, in ihr praktisch zu bleiben: Alles wird in Zweifel gezogen, was die mit sich selbst abgemachte und angenommene Vorstellung der eigenen Konstruktion von Wirklichkeit bedroht. Als ob man sich ständig über Bord würfe – aus dem sozial normativen Kontext – und dennoch Commander über den verlassenen Kontext bleiben könnte. Vielleicht kommt daher das Missionarische dieser Quertreiber – vor allem sichtbar im Bezug und der Bezeugung von abstrakten Quellen oder Mythen (z. B. wird gern Bibelliteratur zitiert). Dieses Auf-sich-selbst-schauen aus imaginierter Distanz entleiblicht den Körper – er zieht sich aus sich heraus – und erarbeitet eine disparate Existenz: vielleicht übergießt er sich mit Feuer, Selbsthass oder oszilliert im Nichtentscheidenkönnen über Realitäten. Spaltungen der Persönlichkeit sind im Gange, um die Diskrepanz von bezweifelter Gegenwart und Zukunftsflucht auszuhalten. Schon ungelenke Phantasie schlürft am Blut ihres misstrauischen Versorgers. Ein großes Therapieversprechen: Die Kontrolle des eigenen Lebens als Überleben zu fassen. Als Überlebender ist man lebendes Opfer, weil man gegen die „Verfolgung“ besteht.  Wer will das bestreiten. Ein Markt für Fake zuerst. In dieser Bewegung dünkt das hellsehende, apperzipierende Subjekt sich klüger, wissender über die von ihm gerichtete, zurückgelassene Situation, über die es Herr sein will. Hier kollidiert der voreingenommene Mensch mit den realen Lebensinteressen- und Bedingungen der Gesellschaft. Das hiesige Leben scheint ein unendlicher Damm gegen die Verwirklichung seiner Versuche die Übersicht darüber zu behalten. Die Annahmen über seine wirkliche Lebenspraxis erscheint dem Paranoiker selbst widerspenstig, unpassend. Diese paranoide Situation bezieht das geistige Leben aus seinen physischen und psychischen Bedingungen, die seine Wahrnehmungen determinieren. Fortgegangen von sich, um sich einzufangen als selbst verantwortlich gegen/ für alles zu wissende, was es in sich und außer sich vorfindet. Findet es Rückkehr. Es spinnt sich ein ins Flüchten aus dem Netz.
In der zunehmenden Entkopplung von den ergreifenden Lebensprozessen durch den Versuch, gerade über sie Klarheit, Übersicht oder Macht zu gewinnen, entschwindet das spaltende Subjekt ins paranoid-produktive Nirvana. Das, was weltlich das Subjekt störte, trifft nun als verstörtes Subjekt auf eine Welt, wo es stört. – Was seine Zweifel um so mehr bestärkt. Es ist wie: Der Unwahrheit angehören und ihr nicht mehr inne sein.1nach Jürgen Habermas

Es steht da wie eine Diagnose: „Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.“2Karl Marx, in: Einleitung – zur Kritik der Politischen Ökonomie, aus dem handschriftlichen Nachlaß, MEW Band 13, Diets Verlag Berlin 1985, Seite 632 f