72, Lyrik – Sprache zum Laut

Die lyrische Form: zuerst die Komprimierung des Gesprochenen gegen die Syntax der Sprache zugunsten möglicher Sinn-Assoziationen, dann eine Verschmelzung von Worten zu lauter Sprache, vielleicht zugleich eine Ahnung von Melodie, und wahrscheinlich: eine Verstärkung von sprachlicher Wahrnehmung und sprachgepresster Anrede zum unmittalbaren Erlebnis. Eine Unschärfe, in der Information (die Form des Gesagten, die Formulierung) und Medium (das codierbare Reservoir des Sagens, der Sprachlichkeit) tanzen. Die ungefähre, allgemeine Bedeutung und Lautbarkeit der Worte dockt an die konkrete, individuelle des jeweiligen Hörenden/ Lesenden an. Die sprachlich geretteten Reste des Hörens Sehens Sprechens überdauern, schwarz auf weiß, die Todesstunde, die Furie des Verschwindens. In ihrer universell anmutenden aber immer wieder einfordernden, weil Assoziationsräume frei sprengenden Beschreibungsgenauigkeit, entwickeln die lyrischen Abkürzungen den Übergang zu fantastischen Implikationen eigenen Erinnerungs-Erlebens: Sie nehmen nicht vorweg, sondern holen nach oder: wieder ein. Sie kratzen an der Patina der sprachlich vermittelten Bezeichnung, tauen mit der – und gegen – die Grammatik das Eis des Vergessens. Weil das Lyrische Ausgesprochenes ist, worin mit einem die Sprache ausgeht, braucht es keine prosaische Hinführung des imaginären Lesers durch eine inszenierte Beschreibung. Lyrik markiert direkt das Ich. Die lyrische Bewegung fungiert wie eine Linse über den Zeilen, wo im heißen Focus Sprache neu gebrannt, und gebannt wird – um ihr Medusisches im Spiegel der Laute, der Buchstaben zu fangen und neuer Beschreibbarkeit frei zu geben:
Das unentwegte Bedürfnis nach Sprache im Rhythmus, im Reim ist ein Aussprechen, Überleben gegen das augenblickliche, ständig drohende Verschwinden der Töne zwischen den Lauten und Leuten. Wenigstens sich noch zu hören und damit Gewissheit über das eigene Sprechen zu erlangen, ist ein existentieller Grund des lyrischen Vortrags. Unentwegtes lautes Sprechen als Statthalter wie Hüter des Vergessens, Erinnerns: um entweder das Vergessen zu vergessen oder es wieder hoch zu holen. Das permanent drohende Vergessen bahnt sich im Gedicht den Weg zur Sprache. So oder so. Es kommt zur Oberfläche. So reden wir, um Anker zum Vergessenen auszuwerfen – auch, um im Vergessen verschwinden zu können.
Die lyrischen Formen sind Botschaften verborgener Bedeutung und Schlüssel zu unbedachten, vergessenen, verlorenen Sprachtruhen: Lyrisch angeschoben, gehoben, fallen wir in ihren Assoziationsraum hinein. Gedichte schaffen für das Vergessene Erinnerungspunkte und Anschlüsse für noch nicht Erlebtes. Sie schlagen eine direkte Brücke von erlebter Geschichte zu vorstellbarer. Sie bergen das Vergessene, das Vorgestellte, Geahnte ins Lebendige und hüten es vor dem Vergessen. Gedichte erinnern die Leerstelle der Existenz, dass wir ohne Sprache nichts sind. Die lyrische Unterbrechung dieses vergesslichen Zuges im Leben gewährt dem Subjekt einen menschlichen Verhandlungs­raum über sich selbst: durch das Sprechen. Das im Gedicht provozierte, geahnte Erleben, fixiert den Lesenden momenthaft wieder zu dem, was er einmal gewesen ist oder jetzt ist: lebendig.

Die künstlerische Form ist der Schrei nach Differenz, Veränderung. Beschreibungs­distanz zum Erleben findet im Gehör, im Bild und in der Schrift ihre Beschreibungsform.

 

 

 

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