178, Geister und Gespenster II – Paranoia und Phantasie
Paranoia
Paranoia – eine Verwandte der Phantasie – ist ein Knoten in nervaler Landschaft aus Angst, systemischer Konkurrenz und Erfahrung. Paranoia ist eine Begabung, überall Chancen oder Gefahren zu sehen. Sie kann durch technische Infekte, Maschinenwucherung, durch sich selbst bestätigende Annahmen und Algorithmen angetrieben und gestärkt werden. Schließlich werden die technischen Möglichkeiten der Umsetzung von Gedanken in die Realität immer umfassender: Angst kann sich nunmehr schnell materialisieren. Im paranoiden Zustand bildet das technische Reservoir an Vorstellungs- wie Beobachtungsmöglichkeiten den Treibstoff der phobischen Motoren. Die paranoiden rotierenden Angstgegenstände erneuern permanent den Maschinenzyklus zukunftsweisender Technologien. Eine Schlange, die ihren Schwanz verschlingt – und nicht zu stillen ist. Wenn die Geister aus der Zukunft kommen und auch gewollt wird, dass sie dorther kommen, verliert die Gegenwart an Präsenz, sie ist vernachlässigbar, sie wird für die angenommene Zukunft geopfert. In den Laboratorien der Industrie, auf den Märkten ist sie als Vision heimisch geworden – wo sonst ist man so verfolgt von der Konkurrenz zum Preise eigenen Untergangs. Die technischen Ausflüsse treiben die Angstexistenz vor Depersonalisierung an und die fluchtartig entworfenen Phantasiewelten vor sich her. Das rettende Ziel ist nicht in Sicht, während der Flucht wird es entworfen, projeziert. Eine Ruhe, ein Frieden stachelt desto mehr das Misstrauen des Paranoikers an, denn der Andere, der Konkurrent, der Feind ist immer da – er „definiert“ die paranoide Selbst-Situation. Ohne den (selbsterzeugten) Verfolgungsdruck wäre der Paranoiker isoliert vom Produktionsprozess, aber das ist sein Metier. Der kapitalistische Produktionsprozess ist auf die paranoische Beschleunigung, d. h. ein Wachstum gegen die Anderen angewiesen. Die paranoide Phantasie ist ein Universum, das alle Dinge, beobachtbaren Handlungsweisen, Regungen in Gegenstände der Spekulation verwandeln kann.
Phantasie
Die Phantasie in der Kunstproduktion dagegen erscheint als eine Fähre, in das Geahnte wie Gefürchtete eintreten zu können: die Vorstellung kann menschlich manifestiert werden. Sie ist ein Außenposten, eine Boje im Wellengang des Wahnsinns, im Vorstoß zu den Grenzen des künstlerischen Selbst. Als Abfall in der Dialektik des riskierten Exzesses, der in seinem Gespinst vor den realen Zuständen liegt, braucht das Ersponnene ständig Material zu seiner Beschreibung, giert nach Nahrung an Prothesen. Das macht die Kunstproduktion für die technischen Illustrationen ihrer phantastischen Gebilde empfänglich und anfällig zugleich. Aber diesem Drang, mit technischen Möglichkeiten das menschlich Verbindliche, das menschliche Maß zu übersteigen, steht die Aufgabe entgegen, Kunstwerke gegen das Technische abzudichten (Benjamin).