160, Selbstverletzung, Ritzen Zeigen und Zweifeln

Selbstverletzung ist eine Brücke, dem eigenen Leben näher zu kommen. Eine Art Begegnung, um auf sich zu stoßen. Negation der beste Meißel, die Panzerung des Lebens aufzubrechen, sich in seiner unschuldigsten, denn animalischen Form entgegen zu kommen: blutend, verwundet zum Selbst. Zur Erinnerung an die täglich gebrauchte Aufmerksamkeit. Der Schmerzreflex führt die Wege zum Ich. Die fehlende Mutterbrust, die zum letzten Mal im Schützengraben, auf der Parkbank, im Technoschuppen stillt.

Das selbst erlangte Opfer – endlich in das geprügelte Kind zurück zu kriechen und die Welt da draußen zu hassen und auf ihre Schläge zu warten durch die eigene Hand: In der eigenen Verwundung zu versuchen, den Schmerz im Schmerzzufügen abzuwehren (Sadomasochismus). Dieser geistig-körperliche Bruch mit alltäglichen Lebensäußerungen oder mit normativen Lebenswelten ist quer der Canyon zwischen den menschlichen Gestalten: Zwischen gesellschaftlicher Integration (die durch den Arbeitsplatz errungene Sicherung sozialer Überlebens-Struktur) und gesellschaftlicher Isolierung (durch Entfremdung vom und oder Nichtpartizipation am Produkt gesellschaftlicher Arbeit). Zwischen diesen Polen sucht, begleitet und erhält sich das gequälte Subjekt sein Scheitern im Versuch, diesen konstitutiven Spalt zu überbrücken oder gar zu überwinden. Die aus dem entfremdenden Dasein, aus dem funktionalisierten Leben gepresste Verstärkung der Spaltung der Person in differente Funktionen wirkt auf die Lebenserhaltung (für und gegen den Arbeitsprozess) und auf die Lebensweltwahrnehmung gleichermaßen zerstörend ein. Schon dieses europäische Leben fordert, sich in Weltbezug und Ichbezug zu teilen.1„[…], dass dem europäischen Denken in seiner gesamten Geschichte die Tendenz innwohnte, Identität nicht im Sinne gemseinsamer Zugehörigkeit zu ein und derselben Welt zu verstehen, sondern im Sinne eines selbstbezüglichen Verhältnisses, des Erscheinens des Seins und seiner Manifestationen im Sein oder auch im Spiegel seiner selbst.“ Achille Mbembe, in: Kritik der schwarzen Vernunft, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, 5. Auflage 2021, Seite 11 Diese Veranstaltungen als Verunstaltungen des selbstbezüglichen Ichs um sein Ich als seine Vollstreckungen zum Objekt seiner selbst, machen es zum schizoiden Beobachter seines Lebens. „Das Sichschauen-Wollen ist die erste Feindschaft des Ichs mit sich selbst.“2Max Bense, in: Ausgewählte Schriften, Band 1, Verlag J. B. Metzler Stuttgart Weimar, Seite 34
Dieses verquälte Ich hält sich an seinen Wunden schadlos – wiederholt, konstruiert sie stets neu, um sich für sein Handeln dagegen zu rechtfertigen, identitär zu konstituieren. Als Opfer.
Der Verlust der Selbständigkeit steigert sich bis zur Freiheit zum Tode, zum Selbstopfer: blutig oder in den höchsten Stufen der Meditation.3Bericht über einen Mann, der aus diesen meditativen Imperativ seinen Arm in die Luft nach oben hält und seit Jahren nicht mehr davon ablässt, Nachzulesen in einem Beitrag des SZ-Magazins, Datum mir unbekannt
Der Verlust an Selbständigkeit ist der Preis fürs Beharren am Überleben. Der rote Draht zu dem, der die ersten Zähne ausbrach.

 

 

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