29, Psychogramm I / Nörgeln leicht gemacht

Paranoia – Irrweg und Erkenntnis

Das Schicksal ist eine Täuschung, das mit steten Veränderungen wartet und Neues ins Leben schmeißt. Es nährt den Zweifel. Kontrolle ist besser.
Ja!
Nichts soll bleiben und
Nichts zu Ende gehen.
Dem Nebenbuhler konnte man noch heroisch in die Fresse springen, doch was im Leben unentwirrbar mit jedem neuen Tag lauert, bildet einen Schatten über alles, an allen Bedürfnissen klebt er, ist Fingerabdruck in jedem menschlichen Verhältnis – hinter den Plakaten unerkannt, die Verbrechen unter Deckung, warten die Masken des Irrtums, der Zweifel auf seine Saat. Alles könnte anders sein.
Ich lutsche an der Ananas. Ich kann das Glück nicht fassen, warum wird es mir zuteil?

Das Misstrauen gegen die Anderen, die ständige Sorge der stete Zweifel am Handeln Anderer – was beabsichtigen sie? -, als die Angst vor Verfolgung, Kontrolle, Durchleuchtung durch die anderen Verrückten, als Prozess, der in den Anderen böse Absichten kreiert: Paranoia. Ihr explosiver Kraftstoff: Verschwörungstheorie. Man kann paranoides Verhalten als Ermächtigung, als übergriffige, kontrollierende, zwanghafte Erkenntnis-Struktur begreifen, die sich gegenüber anderen Erkenntnisweisen erhebt, die sich ihnen voraus sich wähnt: als Imagination der Verfügung über die Sichtweisen, die andere Beobachter auf den eigenen Beobachtungsstandpunkt ausüben. Der Paranoiker glaubt zu wissen, was der andere über ihn zu wissen glaubt und welche Handlungsintentionen sich daraus ergeben. Er bemächtigt sich der Pläne, den unterstellten Intentionen, die die anderen schmieden – er weiß es vor ihnen, er will es kontrollieren. Das ermöglicht, die eigenen para-projektiven Konstruktionen als Konstruktion der Anderen gegen sie selbst zu setzen. Das ist die Watzlawick-Story mit dem Hammer.1Paul Watzlawick, in: Anleitung zum Unglücklichsein
Der Verfolgte folgt den imaginierten Verfolgern, will ihnen zuvorkommen – damit nicht nochmal passiert, was dunkel im Körper wütet, aber vorbei ist, was als Verlust noch gährt. Die Zukunft muss kontrolliert werden, so dass sie in die Gegenwart eingesperrt werden kann. Es soll nicht wieder vorkommen.
Der Verfolger oder die (vermeintlichen) Absichten der Anderen sind ideale Verkörperungen eigener – verschwörerischer – Kritik zu einem Menschen-Objekt, an dem eine potentielle Täterschaft abgeleitet werden kann. Diese Projektionsflächen bzw. Inszenierungen von Verfolger-Objekten (es kann ein Himmelsstreif oder eine gelbe Möhre sein) dienen mit jeder Fluchtbewegung, die sich im Misstrauen ausdrückt, der Stabilisierung der Position des Zweifelns, um das Trauma, den Auslöser der Flucht nach vorn, den Schmerz durch die Nicht-Anerkenntnis zu vernichten. Denn was anderes ist denn der Zweifel am Verhalten der anderen als die Abwehr, Infragestellung der anderen? Verschwörungen sind abhängig von solchen Ziel-Objekten. Jede Person, jeder Gegenstand kommt in Frage und wird mit Misstrauen markiert. Die Tat, das Trauma, das mögliche Opfer-Sein soll getilgt werden, indem die Täterrolle auf alles andere, auf andere Personen übertragen wird. Auf alles andere deshalb, weil das ursprünglich konkrete Trauma erfolgreich isoliert, versteckt wurde und der Kontext verschwommen ist – man tappt im Dunkeln, vor jedem ist die Furcht. Daher oft eine Generalisierung von „symbolischen Tätern“, der allgemeine gemeine Verdacht gegen alles neu herein Flutende, sich Ändernde. – So, als könne man mit Misstrauen die Möglichkeit des Betrugs im Zaume halten. Man möchte niemals mehr betrogen sein.
Der paranoide Terminator kehrt schließlich an den Tatort zurück, vor allen anderen, vor den Tätern, um seine Zukunft zu retten, indem er in die Vergangenheit zurückkehrt. Solang dieses Feuer nicht gelöscht ist, ist der Ort, „wo alles begann“ nicht gefunden. Es ist argumentativ leichter, sich als Opfer zu definieren und sich hinter bezichtigter Täterschaft zu verstecken.
In der Hoffnung, den Armen, den Zungen der Vergangenheit zu entkommen. Auf der Flucht vor der furchterregenden Welt lerne ich zu überleben, lerne ich die Furcht besiegen, indem ich selbst das Fürchten lehre.
Man will diesem paranoiden – durch Vor-Stellungen konstruierten – Welt-Haushalt unbedingt zuvorkommen, um eine selbstische Aktivität sich selbst gewähren zu können – um aus dem Verfolgt-Sein rauszukommen. Paranoia (Misstrauen) scheint ein Zustand zu sein, der die (spekulative) eigenmächtige Konstruktion von Weltzusammenhängen braucht, um diese als selbst-inszenierte Weltmodelle (als gültige Realität) gegen andere Weltmodelle zu setzen und sie zu untergraben, zu hintergehen, zu überlisten. Wenn etwas den konstruierten – angstbesetzten – Erwartungen/ Vorstellungen nicht entspricht, beweist das umso mehr, das für sich selbst entwickelte Misstrauen, den Zweifel, die Angst und berechtigt die eigene paranoide Vor-Sehung. Das Leben wird zum Fantasia-Tatort: Als Versuch, das zwanghaft wiederholende Muster zu beherrschen, endlich den Schleier abzureißen. Die unter paranoides Misstrauen gestellten Anderen, können das ihnen anheimgestellte böse Verhalten nicht umgehen: Sie erfüllen es oder indem sie es nicht erfüllen, bestätigen sie, dass sie Misstrauen verdienen. Die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ist aufgehoben, weil die Fremdreferenz durch das Misstrauen gegen die fremde Welt blockiert wird. Niemand kann sagen, wo es lang geht, denn die paranoide Selbstermächtigung tilgt die Zweifel der anderen, um den eigenen zu wahren. Die stetig konstruierte Evidenz der Möglichkeiten erfordert eine permanente – misstrauische – Reaktionsbereitschaft gegen sie. Als könnte man den (vorgestellt) zukünftigen Ereignissen „einen-Schritt-voraus“ sein. Das Paradox besteht darin, dass eine spekulierte, vorhergesehene Zukunft das gegenwärtige Handeln (in Hinsicht auf diese Zukunft) bestimmt, aber dieses Handeln hebt sich dadurch vom tatsächlich vorhandenen sozialen Lebens-Grund ab, d.h. vom Möglichkeitssinn des gegenwärtigen So-Seins. In der Absicht, der Zukunft im Hier und Jetzt schon habhaft zu sein, ist man der Gegenwart ganz enthoben. Die Welt ist nicht, was der Fall ist,2Ludwig Wittgenstein sagt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“, Tractatus logico-philosphicus sondern wird aus dem konstruiert, was der Fall sein könnte. Sie entsteht kommunikativ nicht aus dem, was gerade passiert, sondern aus dem, was passieren könnte. Angst essen Hirn. Paranoia dunkelt nicht die Erkenntnis, sie ist ihr Schatten. Sie ist eine Form der Beobachtung der Beobachtung, in der das Beobachtet-Werden in eine Endlosschleife der Selbst-Beobachtung implodiert. Die Bedingung der Möglichkeit verstrickt sich in den Möglichkeiten ihrer Bedingungen. Gut böse gut böse gut böse, ganz einfach.