101, Stille halten, Blicke blenden

Stille halten
Wie der Fotograph früher zum Stillehalten anhielt, um das Konterfei zu bannen, in der Art halten wir noch die Gegenstände, Begriffe fest, wenn wir sie als schönen Augenblick behalten wollen – und zerren sie aus ihrem entropischen Fluß der Zeit. Aber nur „wer die Natur kann herausreißen, der hat sie.“ (Dürer) Wenn wir über Gegenstände, Motive reden, reden wir über sie, wie sie waren als wir anfingen, über sie zu sprechen. Wir sind auf den momenthaften Zustand verwiesen, den er flüchtet schnell aus dem Hier und Jetzt. Auch Kommunikation verweist das Kommunizierte auf einen vergangenen Ausgangspunkt. Im Sprechen wird der Gegenstand festgehalten: das Sprechen hält die Verbindung zwischen Beobachter/ Sprecher und Beobachtetem/ Besprochenen aufrecht. Die begriffliche Nähe von Erstarrung (Stillleben) und Starren (Kamera) macht darauf aufmerksam, das dieses durch Stillehalten eingeforderte Herausreißen des markierten Gegenstands aus seinem Fluß die Sinne nicht gewöhnt sind: Nicht nur das langsame, anhaltende Anschauen, auch das wiederholende, immer wieder darauf zurückkommende, ermüdet das Auge. Die Versteinerung, Fixierung des Gegenstands zementiert sich in seinen operator, Auftraggeber hinein. Sie dient der Konservierung eines jetzigen, aber durch das kamerataugliche Festhalten in einen ehemaligen Zustand, damit Erfahrung sich im schönen Bild vollziehen kann. Im Bild wird der Moment, Ausgangspunkt der schönen Wahrnehmungung gefestigt – wir können stets dahin zurückkehren. Ambivalent stülpt sich die versteinerte Ab-lichtung über ihre Resultate, hält jenen gefundenen Moment als Wissen um den schönen Augenblick fest, wo er eingefangen war. Dieses Ab-Bilden fixiert das Erlebnis auf eine bildlich-formale Struktur. Es läßt das Schaf, das die Milch gab, nicht auf die Weide zurück; digital eingefroren. Verweile doch… Im schönen Augenblick schwindet die Zeit.

Spiegelreflex
Wie toll und erschreckend unmittelbar die Welt doch in diesem Spiegelreflex eingeleuchtet und einleuchtend wirkt. Wie dennoch jedes weitere Abspiegeln, Festhalten die optische Präsenz schwächt, verflacht. Die Sensation, das Erschrecken wird in Abbildungen verteilt und klart als manifestes Bild auf. Abgebildete Erinnerung ernährt sich davon, die Gegenwart als Gebanntes auszublenden. Ein stetes Wiedererkennen schiebt sich über das Erkennen. Die Gegenwart im Ablichten, die Verschlusszeit zerrt uns in eine Vergangenheit und gähnt uns als Gewesenes an.

MEDUSA Inversion
Der verwendete Spiegel – das Schild des Perseus, konnte ihn im bereits versteinerten Umfeld unzähliger Versuche, dem Anblick von Medusa zu widerstehen, über ihre Schönheit hinweg täuschen. Der Vermittlung des zweiten Beobachters wohnt Täuschung inne. Sein Spiegel als Schild: die Reflexion vermittelte ihr Angesicht als Ab-bild und bannte den Schrecken bedrängender schönster Umittelbarkeit. Perseus benutzte ein spiegelndes Schild gegen die in sich endlos schön verharrende und Blicke tötende Medusa. Denn wer sie durch bloßes Blicken bestehlen wollte, machte sie vergleichbar. Wer in ihr Dasein starren und töten wollte, erstarrte im eigenen Ansinnen zu Stein. Perseus war ein Held: Er war ein Erster, der durch Fixierung, durch falsche Verdopplung die Gegenwart erledigen konnte. Die Antizipation ihrer Gegenwart über den versteckten Spiegel blendete Medusa mit ihrem eigenen Blick zu Tode. Die Identität mit ihrem Abbild brachte sie um. Die Spiegelung nahm sie im eigenen Raum gefangen. Das von ihr ab- wie losgelöste Bild im Spiegelreflex machte sie sterblich. Sie war kein Narziss. Ihr eigener Anblick verdoppelte sie bis zur Entzweiung. Ihr Blick blendete sich selbst.

DAPHNE Devolution
Die Versteinerung vor dem Betrachter, vor seiner befürchteten Berührung: DAPHNE.
Die Versteinerung ihre Abschreckung. In der Totalität ihres Endes egalisierte sich ihre erotische Faßbarkeit, ihr Geschlecht. Das Spiel ist auf das Spiel seines Endes gekommen. Die Entortung des Geschlechter-Kampfes, weil das menschliche Begehren im wurzelschlagenden Gezweig wegtrieb. Die baumartig umwachsenden Adern fesseln ihren Blutverlust. Das Geronnene wird Zeugnis eines innehaltenden Einverständnisses – Identität mit Blattwerk und jenem Verwandten, der ihr half, so starr zu blühen. PENEIOS. Die symbolisch aus ihr sprießenden, der Liebe nicht zugänglichen Zweige des Baumwerks sind Ausdruck des Nicht-Beherrschten geworden. Sie hatte keine Wahl: Wollte sie ihr noch unberührtes Wesen behalten, mußte sie es verlieren! – Auf evolutionär frühere Stufe gestellt, rein pflanzlich. Ein nicht zu Ende gekommenes Wort APPOLLONS machte sie erstarren. Entmischung als Identitätsbehauptung, die Verweigerung krönte ihren Kopf mit Lorbeerkranz.1Zum Begriff der Vermischung, der Identität vgl. Klaus Heinrich, in Dahlemer Vorlesungen tertium datur, Band 1, Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main 1987, u.a. Seite 76 ff
Das, was die mit AMORS bleibeschwerten Pfeilen ausgelöste gerade noch lebendige Versteinerung darstellt, im Versuch ihr Identisches zu erhalten, verstümmelt zwar, aber noch lebend, ist ein Bild für das Individuum, das der zeitgenössischen, massenhaft umgarnenden Bildermasse der Produktwer­bung gegenübersteht. Heut schon sind wir Überlebende und können den Morgen nicht grüßen, zu viel Blutverlust bis hierhin geschleppt.
Vermischung findet nicht statt oder wird befürchtet. Als Gewesenes skulpturiert; die Macht der Reaktion, der Verweigerung – Insektenhaft starr im Banne der Gefahr. Versteinerung ein Abwehrprogramm im psychoti­schen Steinbruch. Wo ehemals aus den Wunden die Haut des sich entwickelnden Menschen rinnen sollte, gerinnt jetzt gesellschaftlicher Unrat als Konsumgut aus seinen Körperenden, quillt das flexible Individuum aus ihm heraus – flüssig gehalten von der Industrie der Gerinnungshemmer – bis es nichts mehr ist als die Halterung der ihm zugewiesenen produktgemäßen Verkörperungen. Das Blut läuft aus Körpern wie aus Betonpressen. Der Plan ist, das Morgen auszuhärten. Ohne Zuversicht an Morgen sterben die Ahnen. Ohne Hoffnung wird Vergangenheit sinnlos. Daphne: Ein Sinnbild des unausgefochtnen Kampfes. Aus Furcht vor einer liebreizenden Berührung, oder war es Gerührtsein? Ihre Flucht endete im steinwachsenden Baum. Als Armor Daphne erkennt, ihr nachstellt – die Pfeile seines Erkennens auf sie richtend: flüchtete sie, weil sie sich den Pfeilen entziehen wollte (dem Erkanntwerden), oder versuchte sie, dem Resultat des Erkanntwordenseins als ihrer Objektivierung zu entrinnen? Sie nahm sich unmittelbar vor ihm weg. Die sehnsuchtsvolle Vorwegnahme der Kopulation läßt eine Vermittlung von Objekt und Welt nicht in Kraft treten. Als Sinnbild der Liebe: Sie wollte geliebt, aber nicht erkannt werden. Die Begehrte vergab ihrem Körper nicht die Liebe.
Er hätte treffen müssen, dann mit schnellen Drehungen den breiten Pfeil aus ihrem Körper ziehen und ins grad noch warme Fleisch zwischen den zuckenden Nieren seine Finger stecken – die linke Hand hat bereits ihr Genick gebrochen – bis er das höllisch zarte Organ, das wuchernde Erinnerungsmodul der Menschheit aus der blutigen Verästelung befreit.

Verweile doch
Der Mythos von Medusa und Daphne gibt einen Hinweis, weshalb der Schönheit, dem Ästhetischen zu Leibe gerückt wird. – Die Traurigkeit, Ohnmacht gegenüber der Fixierung, Erstarrung beim Anblick einer schönen Frau trägt diesen Rest des Haupt-Abschlagens bei sich. Das schöne Fremde wird durch den Sex in abrupte Nähe vergewaltigt. Weil man mit solcher entfernten Schönheit nicht leben kann, wird sie in Nähe über-wunden und aufgelöst. Oder narzisstisch gewendet: Man kann mit solch fremdartiger Schönheit des Lebens nicht im Leben bleiben.2Vgl. Sigmund Freud, in: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Fischer Taschenbuch, Seite 59 Woran erinnert das Schöne? An die vergangene Unschuld, an etwas Natürliches: an die Natur, die Schuld nicht kennt. An den Verlust und die Möglichkeit der Schuldlosig­keit.

 

 

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