123, Rückkopplung und Entkopplung: Esse est percipi

Ist unsere Selbstreferenz nicht das Ergebnis normativer Fremdreferenz, auch wenn Fremdreferenz uns seltener glückt? „Sein heißt, wahrgenommen werden.“ Wie wir wahrgenommen werden, entspricht nicht notwendigerweise dem, wie wir uns selbst wahrnehmen und: das gilt natürlich vice versa. Das Sehen des Anderen schließt den Blick auf sich selbst mit ein – um der zu sein, als den man sich zu sehen wünscht. Als solitäre Menschen können wir auch auf die Wahrnehmungen von uns selbst reagieren (Selbstreferenz). Auch wenn wir uns in anderen somit spiegeln, peinlichst auf die Rückkopplung der anderen auf uns achten, werden wir uns diese Spiegel nicht so einrichten können, dass wir sie als unsere Spiegel kontrollieren können. Und doch begreifen wir uns zuweilen als eigenwilliges Resultat unserer selbst – entkoppeln uns von den Spiegelblicken der anderen und stellen uns mit großer Geste als Individuum dar. Als ein Ego, das sich ohne die Rekursion der anderen begreift. Selbst-Wahrnehmung mutiert zum selbstverschlingenden Partizipations­bedürfnis an sich selbst. Selbstdarsteller, Performer… Die Reaktion auf die Wahrnehmung des Selbst durch andere (deren Zuschreibungen) führt zur steten Modellierung der Selbstwahrnehmung. Der beobachtete Mensch internalisiert sich zum Reaktions-Feld, als ein Echo der ihn durch Wahrnehmung verflechtenden Umwelt? Es entsteht in diesem Wahrgenommen-Werden eine Einheit von gesellschaftlicher (Außen) und individueller Ebene (Innen), von entäußerter Wahrnehmungsfläche (ich will gesehen werden) mit äußerer Zuschreibung (ich werde gesehen und beschrieben). „Weil das normative Selbstbild eines jeden Menschen […] auf die Möglichkeit der steten Rückversicherung im Anderen angewiesen ist.“1Axel Honneth, in: Kampf um Anerkennung, Suhrkamp Verlag Frankfurt a. Main 1994, Seite 212 – Die Seile der sinnlichen Reize, die das Subjekt auswirft, umknoten seine Oberfläche, halten es im und durch den Anderen fest. Dieses Einschmelzen des Ich durch den Beschreibungsvorgang des Wahr-genommen-seins in den Objekt-Schatten der Welt erfordert eine stete Modulation von dem, was als Wahrnehmungsstoff neu angenommen werden kann. Die Anverwandlung der Sinne in den vorherrschenden Sinn ist gefragt. Sowohl die Anpassung der Nervenzellen an die sinnlichen Qualitäten der Welt (Hell-Dunkel, Aggregatzustände, Riechen usw.) wie deren individuelle Neuformulierung münden beständig in jenes Sein des Subjekts, das sich aus seinem Wahrgenommen-Werden rekonstruiert.
Auf welche Seite der Beobachtung kann man sich schlagen, wenn es gilt, sich in die Phänomene zu schicken? Betrachte ich etwas als Bakterien­kultur oder bin ich von Pest betroffen? Das Ich ist also das, was an ihm wahrgenommen, und es ist nur das, was es selbst in der Lage ist, wahrzunehmen. Konstitutiv. Die wahrgenommen Gegenstände sind ebenso das Baumaterial für seine eigene Kommunikationsmaschine. Was vom Gegenstand wahrgenommen, daraus besteht er, darin besteht dessen Einzäunung, auf die jeweilig gewählten Beschreibungskategorien wird der Gegenstand eingedampft. Die Beschreibungskontexte bedingen dieses Verhältnis. Sofern das Individuum erkennt, was an ihm wahrgenommen wird und was von ihm in die jeweiligen Beschreibungskontexte abfließt, kann das von ihm Wahrgenom­mene sein wahrer Dienst an sich selbst werden und der Verlust seiner solipsistischen Einzelheit zugleich. Nur das Genommene ist wahr.

Wahrnehmung als Liebesakt
Perzeption geht in Auflösung über, weil das Individuum im unaufhörlichen Ringen um neue Wahrnehmungs-Selbstdarstellungs-Angebote Gefahr läuft, sich zu verschleißen.
Die Rezeption sinnlicher Qualitäten in Kunstwerken stellt einen Moment geglückter Verschmelzung von Sinn und Sein dar. Der Wahrnehmungssinn stellt hier den Sinn gemachter Wahrnehmung her. Die Perzeption als der Faden zwischen Individuum und dem von ihm Wahrgenommenen bleibt ambivalent und ist die grüne Ampel zur Konfusion: Das Ich mit seiner Negation im Hier wie Dort ist Körper und sein Gegenstand. Das, was ich mir aneigne, sehe, rieche, höre, entspricht meiner temporären Wahrneh­mung. Das, was meiner körperlichen Matrix (meinen Wahrnehmungssinnen) am Wahrgenommenen entspricht, was sie ansprechen kann und ihnen derart sinngemäß entspringt, eignet sich mir gemäßer an. Was physiologisch und psychologisch dem aktuellen  habituierten Status entgegenkommt (entsprechend geeignet) ist, eigne ich mir überhaupt erst an. Ein – sich ständig resozialisierender –  Rahmen von Präferenzen, Präformation und Prägung. Als wäre Wahrnehmung auf Wahrnehmbares gestützt, verfolgt die Katze jede Bewegung der Maus doch mit jeder Faser ihrer Körpersinne. Die Bildung des Wahrnehmungs-Sinns scheint genetisch mit dem Objekt der Wahrnehmung zu kooperieren. Maus und Katze gehören zusammen, einander fixiert, mit ACTG-Kombinationen in einer genetisch-ontologischen Beziehung festgelegt. Im Wahrnehmen selbst ist dessen Negativität gesetzt. Wo ich nichts mehr sehe, verschwindet mein Sichtbares selber. Das erkenne ich, nur das, nichts anderes, mehr nicht, mehr sehe ich nicht… Die Nichtigkeit fährt mit. Der Platz gegen das Neue, das Hinzukommende heißt Vergessen. Es ist schwer, stets „bedacht“2Mit der Aufforderung „Bedenke“ gibt Morpheus im Film „MATRIX“ Neo noch einmal die Gelegenheit, darüber nachzudenken, entweder mit seiner bisherigen Erfahrung zu brechen (die rote Kapsel), oder weiter im Bisherigen sich zu wiederholen (die blaue Kapsel) zu sagen.