20, verstricktes Individuum

Moderne Individuen finden sich in einer ambivalenten Situation vor: Auf Grund ichfeindlicher, d. h. aufgezwungener Berufs­praxis nimmt die soziale Isolation des Individuums zu, obgleich es diese soziale Verarmung mit elektrisch-algoritmisch kanalisierten sozialen Medien (Skype, Facebook, Instagram, twitter etc.) zu überwinden sucht. In diesem elektrischen Raum ist es angehalten – neben dem ästhetischen Repräsentationsbedürfnis – eine ästhetische (Re-) Konstruktion seines Lebensentwurfs voranzutreiben. Es ist seinem medial inkorperierten Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ausgesetzt. Das wiederum schlägt in eine Art Zwangsver­netzung der permanent zur Verfügung und Verwertung stehenden Akteure um. Die soziale Isolation zwingt eine Art Selbsterhaltung durch Selbstverstärkung auf – bis die isolierte Person in ihrem Spiegel implodiert und ihre Ich-Maske erkennt: Personae. Die monadische Selbstbetrachtung – alle habhaften Ereignisse, Objekte, Menschen durch das ichige Nadelöhr zu ziehen und zu prüfen – treibt das (künstlerische) Subjekt desto mehr in existentielle Ausnahmezustände. Die Individuation ist nicht eine Charakterfrage,1vgl. Gregory Bateson, in: Ökologie des Geistes, Suhrkamp Verlag 1981, stw 571, Seite 385 sondern sie ist den Arbeits- und Lebensumständen verpflichtet; sie entsteht als Defekt aus ihnen. Wenn man Krankheiten als Individuationsprozess inmitten eines soziaen Umfelds fassen kann, so kann das soziale Umfeld des Individuums in sein Krankheitsfeld einbezogen werden. Schon deshalb, weil die soziale Realität des Individuums in ihm selbst als seine Symptomatik ausagiert wird und an ihm als gesellschaftliche Stigmatisierung durch den Begriff der Krankheit kenntlich ist. Charakteristisch ist der Zirkel in dem sich dieses Individuum befindet: Aus der existentiellen Notdurft nach sozialer Integration (Aufmerksamkeit) folgt Isolation, folgt die Absenz vom gesellschaftlichen Common sense und daraus entwickelt der Kranke, Verrückte, Künstler seinen ästhetisch-existentiellen Ausschrei. Die Arbeit zur Selbstbehauptung läuft permanent Gefahr in narzisstischen Nihilismus auszuarten: Die oder ich. Vom Rand des Ichs in sein Inneres vorzudringen, zerstört es. Es wird durchlässig, sensibel, um permanent den Augenblick der eigenen Hölle, des eigenen Spiegels ästhetisieren zu können und das Leid, den Schwerz als die eigene abgerungene Expression vor sich hin zu stellen: Als Bild, Skulptur, Performance, als abwehrendes Distanz­versprechen gegen die idiotische Welt. Dem gepflegten Bewusstsein der Verletzlichkeit – Sensibilität – und deren ästhetische Verteidigung geht die Verletzung des Bewusstseins voraus. Kunstmachen ist beides: das Bewusstsein von Verletzung (in die eigene selbstverschuldete, aber ohnmächtige Freiheit entlassen zu sein) und die Verteidigung der Verletzung mit ästhetischen Mitteln, um sie als Lebenszweck zu behaupten. Es sind die Fäden zum Wirrwarr verschachtelter Begriffs- und Ordnungs­systeme, verweisender Hypertexte, Kontexte, Hieroglyphen, die ich als Netz auf mein ästhetisch motiviertes Handeln werfe, so steck ich darin wie ein sich selbst fangender Fisch. Es sind Ariadnes Fäden, die mich selbst zahlreich in gelobte Wege einspinnen und zu täglich wechselnden Standpunkten zur Hölle der Affirmation drängen.