112, Spiegel und Angst, Kontrolle und fremdes Fluten

Die versuchte Reinkarnation des eigenen Körpers durch ein Gegenbild, den Spiegel, das Konserven-Foto, das Selfie, die Röntgenaufnahme, das MRT im Krankenhaus – als unbekannte Ansicht des Körpers, ist ein Bereich, indem der sichtbar werdende Körper sich in unfassbaren Bildern dem eigenen zeigt. Das vergegenständlichte Bild des eigenen Körpers spukt als nicht vergeistigter Begriff im Patienten umher. Die akute Traumati­sierung, Störung (das Schöne als Schrecken) löst einen chronischen Befall aus, wird unter bestimmten Umständen zur Ohnmacht vor der Macht der Sinnlichkeit der Objektwelt, wird zur Angst vor dem permanenten Eindringen der Welt  über die Tore der Sinne. Das Fluten, das Licht kommt als Schönheit daher. Der Beobachter ist zum ständigen Rapport über die Vorgänge seiner Umwelt angehalten. Die Mutmaßungen über das eigene Objekt-Werden sind schon Objektivierungen – in einer von Sachzwängen anerkannten, umstellten Welt, in der das Subjekt geräumt wurde. Der Beobachtungsjunkie verwächst nicht nur mit der Angst, selbst Objekt zu werden, fühllos und fremd mit sich wächst er in die verkörperlichte Angst hinein, sondern er steht auch vor der Aufgabe, sein vermeintliches Objektsein in sich zur Welt austragen zu müssen, d.h., selbst Teil jener Objektivierungs­macht, Vergegenständlichungsorgie zu werden. Gern würde ich formulieren: Die Beobachtung zweiter Ordnung als Selbst-Infiltration durch angenommene auto-poetische Entfremdung. Die wissentliche Mit-Durchführung dieser Selbst-Infiltration1„Man sagt alles höhere Leben partizipiere an einer Figur der Rückkopplung seiner Wirkungen auf seine Ursachen. Das heißt bei Systemtheoretikern Selbstreferenz. Man hält das für eine Errungenschaft, die praktisch und theoretisch unterboten werden kann. Sie sei gewissermaßen das Ethos der fortgeschrittenen Moderne, aus dem Ansprüche für das Handeln und das Denken erwachsen. Handele so, daß die Wirkungen Deines Handeln immer zugleich auch als Ursachen desselben gelten können! Denke so, daß die Folgen Deines Denkens die Bedingungen desselben darstellen, wo nicht gar verändern: Das handelnde und denkende Subjekt ist damit politisch vollkommen zum Selbst erklärt, zu einem reinem Selbst, dem es bei seinem Selbstsein nur um sich selbst geht. So sind die Geschichte des Geistes und die Geschichte des Subjekts kurzgeschlossen: ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, Selbstgeburt durch das Selbst. Autopoiesis, Selbstserschaffung… Im Hintergrund derart aufgeblähter Eitelkeiten hört man in der Tat das Gelächter des Teufels.“ Dietmar Kamper, in: Unmögliche Gegenwart, Zur Theorie der Phantasie, Wilhelm Fink Verlag Münschen, 1995, Seite 114  von sich und der Welt, der Gefühle, Erfahrungen in Objekte, schlägt um in eine Angst, als Objekt betrachtet, genommen zu werden (Vergewaltigungszene). Die Anwendung kolonialen Beobachtungsbegehrens auf sich (den Beobachter) selbst fördert die Anverwandlung des humanen Körpers ans Objekthafte: Da wird mit Nadeln schon der Körper durchlöchert, mit Tinte verdunkelt und markiert, um sich als Beobachtungsobjekt (für andere) zu erweisen. Natürlich sind sie im alltäglichen Eroberungskrieg um Körper auch „schmerzliche Vergewisserung der ganz alltäglichen Entfremdung“.2Diedrich Diederichsen, in: Körpertreffer – Zur Ästhetik der nachpopulären Künste, Suhrkamp Verlag Berlin, 2017, Seite 96
Angst gemeinhin als Ausdruck eines antizipierten Verfügungsverlusts des Körpers gegen die ihn fremd machenden Objekte! Angst setzt einen Verleiblichungsprozess3Vgl. Hermann Lang, in: Strukturelle Psychoanalyse, stw 1292, Seite 230 f in Gang, der ein stellvertretendes Ersatzteil, einen Hort für die Macke, ein symptomatisches Equivalent braucht. Diese Symptomatik zeigt den geäußerten Versuch des Körpers, der Angst zu entkommen oder sie in der Symptomatik zu kanalisieren. Aber dieser angstbesetzte Körper ist noch im Stande, sich in Verleiblichungen (Externalisierungen),4Vgl. Hermann Lang, in: Strukturelle Psychoanalyse, stw 1292, Seite 230 f also durch körperliche Funktionen auszudrücken (funktionelles Symptom). Das heißt auch, dass durch eine erzwungene körperliche Wahrnehmung – sogenanntesTrickern, Angst ausgelöst werden kann. Die Verleiblichung des Wahrgenommen führt zur besetzten Ver-gegenständlichung des Körpers: Als Angst vor Versteinertwerden, Erstarrung, vor Starrwerden. Die tollen, nicht Mensch werdenden Objekte (Gegenstände) führen im eigenen Körper ein Eigenleben, entmächtigen die bisherige Orientierungsstruktur im Lebensprozeß. „Körperbezogene Ängste können besonders quälend sein, weil man das Angst machende Objekt ständig bei sich hat, in ihm lebt und leibt…“5Hermann Lang, in: Strukturelle Psychoanalyse, stw 1292, Seite 237
Die sich im Körper verkrochenen, unbewältigten Begriffe, Gegenstände halten das betroffene Individuum auf, befremden es. Es ist außer sich vor Angst, ein An-sich zu sein, ein Objekt zu werden. Die selbstzer­störerische Tendenz dieses Gefühlslebens besteht darin, dass das Ich als Objekt und das Objekt im Ich entdeckt, erkannt wurde. Das Fremde (das Objekt) ist ständig bei sich in mir, im es austragenden Körper. Nur unter Aufgabe des Selbst ist es zu bewältigen, damit es endlich heraustritt. „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen“6Karl Marx, in: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Marx-Engels-Werke Ergänzungsband, Schriften bis 1844, Erster Teil, Dietz Verlag Berlin 1977, Seite 517 und übernimmt das Kommando über ihn. Alien.

Die Angst z. B. vor Enge (Agoraphobie) kontrollieren zu wollen mit der Ermittlung eigener Freiheitsgrade muß scheitern: Im Angstinhalt liegt der zu verlierende Handlungsspielraum, d. h. Kontrollverlust über die Situation, über sich selbst. Die Zurückgewinnung von (verloren) Handlungsspielraum bietet einen ernsthaften Therapieansatz zur Überwindung von Angst. Indem Angst, bzw. die Einschränkung des Ich zur Freiheit umgekehrt werden kann, als Freiheit zu dem, wovor das Ich Angst hatte. „Man kann nur solche Zustände oder Aktivitäten eines Dinges kontrollieren, die in den Bereich seiner Freiheitsgrade fallen oder, mit anderen Worten, in den Bereich dessen, was es kann.“7Dennett, in: Ellenbogenfreiheit, Beltz Athenäum, Seite 73, – Zunehmende Kontrolle führt tatsächlich desto mehr zur weiteren Einschränkung von entsprechender Freiheit. Was man nicht kann (wo kein Handlungsspielraum existiert), kann nicht kontrolliert werden. Daraus zieht der Motor der Spekulation seinen Treibstoff. Daher die permanente Überprüfung des eigenen Handlungsbereiches und zugleich dessen Infragestellung. Dauerschleife.

Opfer zur Tat
Die Phobie, beraubt, penetriert zu werden, mündet in deren Bindungs-Versuch, in unvermittelt scheinende, reflexhafte Aneignung eines potentiellen Auslösers: Täters. Der Versuch, der befüchteten Tat zuvor zu kommen, indem man zur Tat schreitet. Man bemächtigt sich der aungstauslösenden Gründe und wird selbst Täter. Man kommt ihnen zuvor. Welch Gefühl, endlich zu agieren. In dieser psychotischen Umgebung ist Täterschafft Alibi für das gefürchtete Opfersein. Diese Ermächtigung hilft, die eigene Angst durch Gewalt gegen andere abzuwenden. Das Leiden emanzipiert sich zum Täter. Zum Dieb geworden aus Angst vor Diebstahl.8„Eine Möglichkeit, das zu bekommen, was man von einem anderen haben will, während man gleichzeitig über den Prozeß des Erwerbs die Kontrolle behält, ist der Diebstahl. Schizoide Phantasien über Stehlen und Beraubtwerden basieren auf diesem Dilemma. Wenn du das, was du vom anderen brauchst, stiehlst, behälst du die Kontrolle. Du bist nicht auf das angewiesen, was dir gegeben wird. Aber jede Intention wird sofort auch dem anderen zugeschrieben. Der Wunsch zu stehlen erzeugt Phobien, beraubt zu werden. Die Phantasie, daß man alles, was man an Wert besitzt, durch Stehlen bekommen kann, wird von der Gegenphantasie begleitet, daß die Werte, die andere haben, einem selbst gestohlen wurden und daß alles, was man hat, letzten Endes weggenommen wird: Nicht nur, was man hat, sondern was man ist, das eigene Selbst.“ Ronald D. Laing, in: Das geteilte Selbst, Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 1994, Seite 113
Erscheint im Gewaltverbrechen die durchgeführte Verstofflichung von „fehlgeleiteten“ – kulturell nicht verwertbaren –  Furchtenergien? Die fehlgeschlagene Bemächtigung von Wirklichkeit, von ungebrochene Lebensnähe Versprechendem, mit der Idee des Raubes zuvor zu kommen (dadurch wird Angst vollzogen), erfüllt sich vorläufig im Objektersatz, der die mutmaßliche Leerstelle besetzt. Im Falle einer mangelnden Objektivierung der auftretenden Angstzustände, kann das betroffene Individuum dem angedrohten Angst-Objekt nicht durch dessen aktive Entmächtigung/ Entmaterialisierung zuvorkommen. Z. B. durch den erzwungenen Diebstahl, das Pfeifen im Dunkeln reicht nicht, um der vermuteten Gewalttätigkeit aus dem Weg zu gehen. Es ist schon von der Angst besetzt und kann Phänomene nicht durch Objektivation kontrollieren. Es kann sich seine Objekte nicht selbst bilden. In Ersatz-Adressaten, Ersatzbildungen wie Spinne, Käfer, Geräusche usw. versteckt, tarnt der Angst-Mensch seine verheimlichten so unheimlichen Urspünge seiner Angst.9„… Das Unheimliche sei gerade nicht jenes absolut Fremde, als welches wir es erleben. Es wäre vielmehr das >heimlich< Vertraute, das aus seinem inneren Exil heraus in die Magie des äußeren Objekts verbannt wurde.“ Heinz Weiß, in: Zwei Seiten des Unheimlichen, in: Das Phänomen Angst, Pathologie, Genese und Therapie, Hrsg. Hermann Lang und Hermann Faller, stw 1148, Seite 80 Die psychische Potenz wird in leibliche gewendet – Vorstellungs-Vermögen schlägt in körperliches Agieren um. Die Vorstellung eines Menschen, beraubt, genommen zu werden, wird zum Raub, ins Nehmen gewendet. Der Raub wäre als Schutz vor Raub funktionalisiert. Man kommt der Spaltung seiner Person (z.B. durch Gewaltanwendung) zuvor, indem sich der Objekte (der äußeren Dingwelt) versichert wird: Bereicherung. Vielleicht kennzeichnet der Begriff der Bereicherung ein privates Motiv für all die vergoldeten Prothesen der Reichen, die sich gegen diese Angst anreichern. Die aufgewen­dete Aggressivität für den Erhalt vergoldeter Prothesen (zumeist durch eine Privatarmee an Sicherheitsleuten) weist auf die empfundene Drohung ihres Entzugs hin. Die Produkte des Diebstahls (der Phobie) machen auch Welt zugänglich, helfen sie herzustellen. Der Diebstahl, die Objekt-Ent-Nahme dient hier zur Prävention vor der Welt eben mit ihrer Dinglichkeit. Es gilt die Welt auszusaugen, um in sie hinein zu kommen, in ihre leeren Gefilden. Hier erscheint bemächtigende Aufklärung vornehmlich oral, in Form des goldenen Schnullers, das erachtete Weltteil in sich festhaltend, im Verdauungsorgan vor äußerlichen Einflüssen geschützt. Das ist Vorbeugen durch Vernichten. Klauen jenseits von wirtschaftlicher Notwendigkeit betrachtet.10vgl. Ronald D. Laing, in: Das geteilte Selbst, Kiepenheuer & Witsch, Seite 114 Die Beobachtung, dass nach erlittenem Diebstahl die Bestohlenen nun selbst dasselbe Objekt auf selbe Weise wiederbeschaffen mögen – als Rationalisierung muss das eigene Leid herhalten – zeigt neben dem psychisch defekten Verhalten auch die Schwere der psychischen Deformation, die ein solcher Diebstahl beim Geschädigten hinterließ.

Jekyll & Hyde
Dass im Nachvollzug, in der Dopplung der Tat, die eigene Leidenserfahrung verschoben, delegiert werden könne, weißt auf die therapeutische Wirkung der Nachahmung, Wiederholung hin. Mit der Wiederholung der Tat am Anderen wird die am eigenen Leib erlittene Tat abgelöst. Der leidende Körper verschwindet im anderen. Das eigene Leiden wird durch ein anderes ersetzt. Die Abwehr des Opferseins führt zur Umkehr: Zur Täterschaft. Sie ist jetzt in derselben Person zu Hause. Das Opfersein wird Antrieb für das Tätersein, das sich zugleich daraus rechtfertigt. Die Taten graben sich tief in die Person wie sie dort vergraben sind. In der gespaltenen Persönlichkeit bleibt den Opfern ihr Opferstatus erhalten, ihre Täterschaft reproduziert sie. Im Doppelleben wird der Betane Täter.
Übertragen auf eine Gesellschaft, die in der Rationalisierung des Diebstahls und Raubbaus als Systemanforderung massenhaft Leid erzeugt, besteht die propagierte Lösung des Konflikts in dem Vorschlag, allzeit Erster sein zu müssen: survival of the fittest. Tatsächlich bestätigt jeder Egoismus das gesellschaftlich eingepflanzte Negativ, den Mangel des eigenen Daseins durch die Arbeit der Anderen zu beseitigen. Es fehlt an so vielen ersten Plätzen. Es gehört zu den wesentlichen bürgerlichen Phrasierungen, dass der einzelne Egoismus mit seiner eigenen Rationalisierung, oder mit der Rationalisie­rung des Systems auf seinen „eigenen“ Zweck, sich vor den Vorgriffen Anderer mit dem Erreichen erster Plätze zu schützen glaubt. Ein Doppelleben gegen den Rest der Welt, oder: Die Welt als ein Minus vor dem Ich, sie ist das, was es nicht ist.

 

 

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