175, Devolution – survival of the fittest

1Foto: Hans-Georg Köhler, 2014

Herbert Spencers Satz „Survival of the fittest“ wird in der kapitalen Ordnung gern missverstanden: Als Schablone dient er dazu, soziale Verhältnisse bzw. Hierarchien in Gesellschaft mit evolutionären Prozessen der Anpassung gleichzusetzen oder gesellschaftliche Prozesse damit zu beschreiben. Die Entwicklung des Menschen aus seiner ellenbogigen Kinderstube – im Querblick zur Tier- alias Naturwelt – wird in diesem berühmten Satz als evolutionärer Weg des angepassten Individuums bis zu seinem aus der „Überwindung“ seiner Tiergeschichte geronnenen menschlichen Zustand aufgezeigt. Dieser evolutionäre Zwischenhalt soll der Gipfel aller evolutionären Entwicklungen sein – als hätte Evolution nur dieser Ergebnis „im Sinn“ gehabt. Damit das aber Sinn macht, muss ein Sinn unterstellt werden: Ein Schöpfer, der etwas jenseits steht, so dass man sich auf ihn als absolute Instanz für das jeweils eigenmächtige Verhalten gegen die Natur rechtfertigen kann. Der Schöpfer ist der Stärkere als Naturgesetz.
Gleichwohl soll die Krönung der Schöpfung sich mit Prädatoren des Tierreichs messen lassen müssen, um jenseits von Zivilisation ein Anrecht auf Teilhabe menschlicher Zivilisation zu erhalten. Was für ein Alibi: Man bombt die, die man ausbeutet in einen Naturzusammenhang zurück als Rechtfertigung für deren Ausbeutung, Verschmutzung, Raub. Die Evolution soll als Schöpfungsakt Gewähr dafür sein, gegen sie das Recht des Stärkeren anzuwenden.2Vgl. René Pollesch, in: Der Schnittchenkauf, 2011-2012, erschienen anlässlich der Ausstellung: René Pollesch „Der Dialog ist ein unverständlicher Klassiker“, 16. Dezember 2011 – 4. Februar 2012, Galerie Buchholz Berlin, Hrsg. René Pollesch, Christopher Müller und Daniel Buchholz, 2012, Seite 61 Was heißt hier überhaupt, der am besten angepasste überlebt? Wer definiert, woran sich angepasst werden soll?
In kapitalistischer Deutung von Gesellschaft soll ein Sozialdarwinismus dafür herhalten, Gier als Naturzusammenhang zu veredeln und die Bestohlenen, Unteren werden mit der Der-stärkere-überlebt-Floskel erniedrigt.3Immer mal wieder wird der Slogan im Banksektor benutzt (z.B. https://www.brn-ag.de/34884, letzter Zugriff 21.07.2023 Die Überwindung der animalischen Natur des Menschen trägt selbst tierische Züge – welche Versuchung, einfach drauf zu schlagen, die Kehle zu packen. Der Sumpf wurde mit Menschenleibern und Schuld trocken gelegt. Von hier an – der Schnittpunkt, in dem der Mensch in seine eigene Geschichte springen konnte: Anthropozän – zeugen steile Vergleiche mit tierischen Verhalten von arroganter Rationalität, wechseln sie doch unterschiedliche Qualitäten, Eigenschaften mit unterschiedlicher Münze oder Begriffsebene. Unterschiedliche qualitative Kategorien werden anhand von schrägen Vergleichen in denselben Begriffsraum gestellt und somit die Differenzen abgestumpft: Es werden unterschiedliche Lebenszustände mit Maßeinheiten konfrontiert und hernach gleichgemacht: Geschwindigkeit, Körpergröße, Gewicht, Erfolg, Renditeerwartung. Einerseits ist da die Analogie zum Tierreich – der Mensch als Ende der Nahrungskette missverstanden, andererseits wird der Mensch ideologisch als Fertig-in-die-Welt-gekommen dargestellt, als voraussetzungslose menschliche Entwicklung von ‚0‘ an, vom Beginn seiner Tage von Gott mit Naturbeherrschung ausgestattet. Missachtend seinen evolutionären Schnecken-Sprung aus der Tierwelt, seinen andauernden gewalttätigen Bruch als seine stete Verbindung mit den Stammbäumen seiner Tiergeschichte. Der Prozess des Herausarbeitens aus seiner animalischen Geburtsstätte wird als Kampf jeder gegen jeden hingestellt. Als ein unabänderliches Über-uns-hinweg-Dauerndes wie Donnerndes. Gleichwohl nennt man grausame Menschen tierisch. Sonst aber gilt es als opportun, in gegenseitig sportiv gefeierter Rücksichtlosigkeit für das eigene Überleben zu sorgen – sei es auch noch so unmenschlich. Es verschleiert die Unmenschlichkeit als quasi Alibi, sich gegen andere rücksichtslos durchsetzen zu können. Für die Unmenschlichkeit gilt die evolutionär anschleichende Wurzel der Anpassung – survival of the fittest – als Rechtfertigung. Die abgerissenen tierisch-naturwüchsigen Hände und Masken werden als Beweisstück dieses ideologisch-herrschaftlichen, sagen wir einfach: kapitalen Vorgehens gegen den Menschen, dem Menschen wieder eingepresst und in sein abgelegtes Fell gewürgt. In der kapitalistischen Welt bedeutet frei-sein (bestenfalls) tierisch-sein zu dürfen – wenn es durch Macht definiert wird. Der Kampf gegen alle anderen, die potentiell an der Verwirklichung eigener Interessen hindern, ist eine ultima ratio des Müssens im kapitalistischen Imperativ des Überlebenskampfes geworden.4„Auch wenn es keine Enden und keine puren Ausweglosigkeiten in der Geschichte gibt, muss man wohl konzedieren, dass die Feindseligkeit aller gegen alle nicht nur zu einem erfogreichen Geschäftsmodell, sondern zu einem überaus zukunftsfähigen Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Es ist nicht ausgeschlosssen, dass es das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird.“ – Joseph Vogl, in: Kapital und Ressentiment, Verlag C.H. Beck, München 2023, Seite 182
Die naturhaft-evolutionäre Verkörperung menschlicher Geschichte gebiert Ungeheuer. Es ist Verrat an der Humanität, aber sie ist Bares wert. Als hätte sich nichts geändert, als gäbe es keine Menschheits-Geschichte, wird der Mensch seiner Vor-Zeit gleichgemacht, fixiert in der tierischen Evolution – ist das sein Schicksal? Ich kann es mir nicht erklären, warum so viele Tierfilme gezeigt werden.
Sollen die Zuschauer auf die Übertragung des naturwüchsigen Überlebenskampfes in die sich menschlich nennende Gesellschaft geeicht werden? Das Abstellen des Spencerschen Satzes auf die menschliche Sozialisation ist nur ein simples Zuschreibungsmodell. Diese wuchernde Setzung von Analogien in der Verhaltensforschung5siehe Kommentar von Klaus Heinrich, in: Dahlemer Vorlesungen vom bündnis denken, Band 4, Stroemfeld Verlag Frankfurt am Main und Basel, 2000, Seite 175 f, Seite 179, und Klaus Heinrich, in: tertium datur , Einführung in die Logik, Dahlemer Vorlesungen Band 1, bes. Seite 110, 111f, 152 setzt menschliches Sein ins Tierreich zurück, um von dort aus unsere Muster des Verhaltens zu beschreiben, bzw. unser Verhalten auf eine nur biologische Ordnung/ animalische Sozialisation abzustellen.6vgl. Klaus Heinrich, in: Dahlemer Vorlesungen tertium datur, Band 1, Stroemfeld/ Roter Stern, Basel und Frankfurt am Main, 1987, Seite 110 f (die Anwendung des analogischen Verfahrens auf Ereignisse in der Menschheitsgeschichte)
Zurückgebombt, eingesperrt in seinen Affenzoo. Als Subjekt der Geschichte niedergehauen, als Objekt ausgebeutet, schon im Mutterleib. Soziale Devolution.

Maturana:
„Die Entwicklung des Darwinschen Konzepts der Evolution hat aufgrund seiner Betonung der Spezies, der natürlichen Zuchtwahl und der Tüchtigkeit auf den Bereich des Menschen einen Einfluß ausgeübt, der weit über die Erklärung der Vielfalt des Ursprungs lebender Systeme hinausreichte. Der Evolutionsbegriff hat soziologische Bedeutung gewonnen, da er eine Erklärung der sozialen Erscheinungswelt in einer Konkurrenzgesellschaft ebenso anzubieten scheint wie eine wissenschaftliche Rechtfertigung für die Unterordnung des Schicksals der Individuen unter die transzendentalen Werte, die anscheinend in Begriffen wie Menschheit, Staat oder Gesellschaft enthalten sind. Die Sozialgeschichte des Menschen zeigt in der Tat eine Beständige Suche nach Werten, die die menschliche Existenz erklären oder rechtfertigen, ebenso wie den ständigen Gebrauch transzendentaler Vorstellungen, um soziale Diskriminierung, Sklaverei, ökonomische Ausbeutung und politische Unterwerfung der <<Individuen nach den Planen oder Launen jener zu rechtfertigen, die vorgeben, die in diesen Vorstellungen enthaltenen Werte zu repräsentieren. Für eine Gesellschaft, die sich auf ökonomische Arbeitsteilung, auf konkurrierende Vorstellungen von Macht und Unterordnung des Bürgers unter den Staat gründet, scheinen die Begriffe der Evolution, der natürlichen Zuchtwahl und der Tüchtigkeit (mit ihrer Betonung der Spezies als der überdauernden historischen Entität, die sich durch die Entbehrlichkeit vergänglicher Individuen erhält) eine biologische (wissenschaftliche) Rechtfertigung für ihre ökonomische und soziale Struktur zu bieten. Nun ist es im biologischen Sinne richtig, daß das, was evolviert, die Menschheit als die Spezies homo sapiens ist. Es ist im biologischen Zusammenhang ebenso richtig, daß der Wettbewerb bei der Bestimmung evolutionären Wandels sogar für den Menschen gilt. Weiterhin gilt, daß unter den Gesetzen der natürlichen Zuchtwahl die hinsichtlich der ausgewählten günstigen Merkmale geeignetsten Individuen überleben oder gegenüber den anderen Fortpflanzungsvorteile genießen, und daß jene, die nicht überleben oder hinsichtlich ihrer Fortpflanzung weniger erfolgreich sind, zum historischen Schicksal der Art nichts oder weniger beitragen. Es schien sich daher aus der Perspektive Darwins zu ergeben, daß die Rolle des Individuums darin bestand, zur Fortdauer der Spezies beizutragen, und daß alles, was man für das Wohlergehen der Menschheit zu tun hatte, schlicht darin bestand, den natürlichen Phänomenen ihren Lauf zu lassen. Die Wissenschaft, d. h. die Biologie, schien die Vorstellung des „Alles zum Wohl der Menschheit“ zu rechtfertigen, worin immer auch die Intention oder das Ziel dessen bestanden, der dies zum ersten Mal äußerte. Wir haben jedoch gezeigt, daß diese Argumente nicht gelten, um die Unterordnung des Individuums unter die Spezies zu rechtfertigen, da die biologische Erscheinungswelt durch die Erscheinungswelt der Individuen determiniert wird und da ohne Individuen überhaupt keine biologische Erscheinungswelt existieren kann. Die Organisation des Individuums ist autopoietisch und auf dieser Tatsache beruht all seine Bedeutung: es wird durch seine Existenzweise definiert und diese Existenzweise ist die autopoietische. Die Biologie kann daher nicht länger dazu benutzt werden, die Entbehrlichkeit  der Individuen zum Wohle der Spezies, der Gesellschaft oder der Menschheit unter dem Vorwand zu rechtfertigen, daß seine Rolle lediglich darin bestehe, diese zu erhalten. Die Individuen sind in biologischer Hinsicht nicht entbehrlich.7Humberto Maturana, in: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft bmH, Braunschweig 1985, dt. Fassung von Wolfram K. Köck, Hrsg. Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt, Siegen und Prof. Dr. Peter Finke, Bielefeld, Seite 219, 220

 

 

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