21, Spezialität – Blickmodelle

Der Fokus auf Details und absolute Wahrheiten, die die Nacht durch den Tag verraten, haben gemeinsam, dass sie das Privileg ungeteilter Aufmerksamkeit gegen alles andere genießen. Man braucht eine spezielle Haltung, um andere Bedeutungen für die eine besondere aufzugeben. Das Besondere als das große Minus vor dem Allgemeinen. In dem Sinn engt Spezialisierung andere mögliche Bedeutungen ein – zugunsten eines Besonderen. Spezialisierung als eine Flucht „in die Blindheit gegenüber der Vielzahl der Möglichkeiten“1Heinz von Foerster, in: Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners – Gespräche für Skeptiker, Carl-Auer-Systeme-Verlag Heidelberg, 2019, Seite 35 Wenn man sich für einen Gegenstand interessiert, ist das Interessante an ihm dadurch besonders, weil es im Fokus der eigenen Aufmerksamkeit steht. Man sieht genau hin, d. h., man konzentriert sich auf einen ausgewählten Ausschnitt – alles andere lässt man weg, schneidet ab, fliegt weg. Der so fixierte – spezialisierte – Blick auf das auserwählte Objekt negiert zugleich alle anderen möglichen Konstellationen des Wahrnehmens. Ein Mehr halten wir nicht aus. Die Fixierung des Objekts durch die Prämissen der Beobachtungskalküle ermöglicht eine Loslösung des beobachteten Objekts von seinen Zusammenhängen mit anderen Objekten und führt zur Trennung des beobachtenden Subjekt von seinem Objekt. Man muß sich entscheiden: was nicht zugleich am Objekt beobachtet werden kann, wird abgeschnitten – auch wenn es auf derselben Sichtebene liegt. Einfacher ist es doch, den Rest zu erfinden, aufzufüllen, passend zu machen und sich aus der Verantwortung des eigenen Blicks zu stehlen. Denn „Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemachte werden. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit.“2Heinz von Foerster, in: Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners – Gespräche für Skeptiker, Carl-Auer-Systeme-Verlag Heidelberg, 2019, Seite 154

 


Auge Auge, Zeichnung auf Papier © Hans Georg Köhler, 2012

 

Man könnte auch sagen, dass der „blinde Fleck“ gegenüber ganzheitlichen Zusammenhängen dem spezialisierten Auge Rechnung trägt. Wenn man also nicht „alles“ im Blick behalten kann, sollte man sich auf etwas Besonderes fokussieren. Der durch okulare Blickschnitte konstruierte blinde Fleck markiert daher sowohl eine Art Überfülle an Wahrnehmbarkeit wie deren Abwehr durch Konzentration auf Einzelheiten. Die Münze der Auslöschung ist Spezialisierung. Die Vereinzelung der Techniker, Wissenschaftler, der „verrückten Professoren“, Literaten, Künstler bildet das Herauslösen aus der autistisch anmutenden Überfülle des Wahrnehmbaren ab. Es entsteht „ein Geschöpf reduzierter Vollkommenheit, das seine Chancen seinen Einschränkungen verdankt.“3Max Bense, in: Ausgewählte Schriften, Band 1, Metzler, Seite 315 So erscheint eine Konstruktion möglich, in der das Besondere wie Ausgeklammerte zum Modell einer beobachtbaren Welt wuchert: Der reduzierte, eingeengte Blick wird zum Ausgangspunkt von Welt-Beobachtung. Aber genau mit dieser irren Intention, Welt aus den (freiwillig) beschränkten Wahrnehmungs-Ableitungen durch „objektive“ Normen zu konstruieren, wird der Körper zum letzten Einsatz gegen die Maschinerie operativen Lebensvollzugs. In Hinblick auf den ausschließlichen Charakter des Zeigens, des Aus-Stellens, wie es in der Kunst geläufig ist, können wir aus der Beobachterperspektive 2. Ordnung – das Beobachten des Beobachtens – begreifen, dass das besonders Gezeigte immer auch auf etwas anderes hinweist, als es den ersten Anschein hat. Die Eingrenzung, die durch das Zeigen markiert wird, schleust das Nicht-Gezeigte als Ausklammerung ins Zeigen mit hinein – als Ausgegrenztes. Die Grenze oder die Differenz läuft mit – könnte man sagen. Gerade in dem Gezeigten sehen wir nicht nur die Konzentration auf etwas besonders Ausgedrücktes eines Künstlers als sein Augenmerk, als seine Beschränkung, sondern auch, dass in dieser Beschränkung nicht nur Rückzug bzw. Konzentration stattfindet, sondern ebenso Hinweise auf das durch die Formen ausgesondert Verlassene, auf das Verlassene selbst gezeigt werden kann. Die Grenze des Zeigbaren befindet sich im Gezeigten, wird durch das Zeigen realisiert.4Vgl. Niklas Luhmann, in: „Die Realität der Massenmedien“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage 2009, Hrsg. Jörg Rössel, Uwe Schimank, Georg Vodruba, Seite 19

Dass spezialisierte Einseitigkeit als normative Setzung des wissenschaftlichen Apparates und der Produktion (Arbeitsteilung) auf ihre Bediensteten durchschlägt, ist die an der Produktion rationalisierte und geförderte, aber tatsächlich individuell auszufechtende Seite des problematischen Prozesses der Ausdifferenzierung sozialer Handlungsfelder. Die aufgezwungene und erforderliche wissenschaftliche Einseitigkeit (Konzentration, Stilisierung wären hierfür auch brauchbare Worte) ermöglicht damit psychogene Strukturen, die zur Störung, zur Verrückung des Bewußtseins führen.5vgl. Klaus Heinrich, in: Dahlemer Vorlesungen, Roter Stern, Berlin, Band 3, Arbeiten mit Ödipus, Seite 37 Die Etablierung eines besonderen Interesses engt natürlich die Möglichkeiten für andere Interessensgebiete ein. Die besondere Begabung – ob für Zahlen, Formen oder Partituren – ist dann gesellschaftlich anschlussfähig oder wird herausselektiert. Daraus folgen die gesellschaftlichen Normierungen bzw. Stigmatisierungen. Die Kompatibilität einer speziellen Begabung zu anderen sozialen Handlungsräumen hängt von ihrer individuell ausgetragenen Anpassungsfähigkeit bzw. sozialen Akzeptanz ab. Ein „passendes“ Individuum existiert nicht, sondern nur dessen mehr oder weniger großer Konflikt, Anschlussfähigkeit zu erlangen.