126, Espenhain (Erinnerung ohne Ort)

Wenn Erinnerung nicht mehr an ihre räumliche Koordinate, ursprüngliche Topografie, an ihre verorteten Einschreibungen anknüpfen kann, ihr Seil des Herkommens verloren hat, wenn eben diese konkrete Raum- und Zeitimplikation zerstört wurde, vermag das Erinnern nicht, sich eines Ausgangspunktes zu versichern. Der Vergegenwärtigung des erinnerten Ereignisses fehlt die Verbindung zum Realitätsraum. Das Erinnern nimmt unwirkliche Züge an; es wird abstrakt wie ein fake. Die ehemalige Praxis – in Zeit und Ort – zieht sich in graue Berge des Vergessens zurück – nichts ist an dem Ort treu der Erinnerung. Das Erinnerte muss verwesen oder zum Paradies mutieren, weil die Verknüpfung zur Jetztzeit des Individuums fehlschlägt. Dieser Widerspruch zwischen dem Wissen da war das und das passiert, da stand doch meine Werkhalle und aber dem Nicht-mehr-Sehen, Nicht-Auffinden, wo das alles war, wo die bestimmte Erfahrung – auf die ja die Erinnerung zurückleitet – passierte, depressiert schließlich das Individuum. Das Wiedererkennen erhält in diesem Verhältnis eine existentielle Bedeutung, die dem Individuum sicher in seine Zeitformen einwebt und ihm seine (Erfahrungs-) Kontinuität zu sich selbst erhält. Ohne diese Kontinuität lastet das gelebte Leben als ausgelöschtes Verhältnis zur Gegenwart unabgeglichen auf dem enträumlichten Menschen. Lebenskontinuität entsteht aus einer stabilen Beziehung zwischen physiologisch abgelegter Raum-Zeitimplikation – eine neuronale Re-Aktions-Vernetzung – und deren weltlicher Wiederauffindbarkeit. Man braucht die Spuren. Die Erfahrungskontinuität beruht auf raum-zeit-gültigen Vernetzungen – also eine bestimmte Art der Vernetzung wird jeweils mit einem Zeitstempel verknüpft.1„Natürliche Gehirne trennen nicht zwischen Prozessor und Speicher, das Wissen steckt in der Vernetzung der Neuronen.“ In einem Artikel der c’t: „100 Millionen Neuronen in der Cloud“, Nr.8, 28.03.2020 Der  Entzug der  raumgültigen Grundrisse (Netzstruktur) – die Trennung von Information und Medium – einer Erinnerung durch die Zerstörung ihrer raum-zeitlichen Koordinaten – oder sind es Knoten? – in der Topografie, Knotenstruktur des abgelegten wie erinnerbaren Ereignisses fußt auf der verorteten wie verzeitlichten Verknüpfung des (erinnerten) Ereignisses, der Begebenheit zum Hier und Jetzt. Die Verknüpfung von Information als Wissenserzeugung – gleichbedeutend mit der neuronalen Wegbeschreibung zum erlangten Wissen: Erinnerung. Die Verknüpfung von Raum (= Vernetzung der Vernetzung) und Zeit (eine Art archäologische Schichtung der Vernetzungen) zum Ereignis ist in diesem Sinn Erinnerung und ist der Sinn von Erinnerung.
Wenn der entwickelte Erfahrungszusammenhang (Lebenskontinui­tät) durch steten Orts- bzw. Berufswechsel entzogen oder materiell zerstört wurde – die Erinnerung trügt – kann es zu verstörtem und dann zerstörerischem Verhalten führen. Die erlernte wie vorgeprägte (habituierte) Lebensweise mit ihren darin gewonnenen Erfahrungen folgt vorherrschenden Lebensbedingungen und ist als kündbare Verpackung stets labil und gefährdet. Eine Revolution und die Biografie erfährt Bestätigung oder wird sinnlos.

 

 

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