115, Das Ich und seine Beziehungen: Kunst und Liebe

„Die Neurose ist der Weg, dem Nichtsein auszuweichen, indem man dem Sein ausweicht.“1Paul Tillich, in: Der Mut zum Sein, De Gruyter, Seite 56 Das ist ein künstlerisches Betätigungsfeld und eine Gebrauchsanweisung für Kunstprodukte – gesellschaft­lich legitimiert ist lediglich das künstlerische Schlachten der Gegenstände, Phänomene durch deren ästhetische Anästhetisierung. Man befände sich bloß auf der Umlaufbahn um die gravierenden Punkte, mit dem Angstschweif ideeller Gedanken. Der angstkonstruierende Moment aber, unsichtbar, ungesehn zu sein, lebt fort noch im Dunkeln. Nicht so sehr, dass ich nichts sehe, doch selbst nichts von mir zu sehen ist, sondern: nicht erkannt, gesehen zu werden, bereitet ontologische wie berufliche Unsicherheit. Dieses Ich sieht nicht und Nichts, wenn keiner da ist. Oder mindestens: Einer. Allein kann es sich nicht von außen, aus dem Fremden, über das Fremde, das sich als das Andere im Ich oder als Ich im Anderen entpuppt, entgegenkommen.2„Über die existierende Sprache als Mensch kann man in verschiedenen Ebenen der Diktion sprechen. In der Humboldtschen Ebene kann ich sagen: Wie ich mein Ich nur im Gespräch mit dem Mitmenschen, in dem ich als Anerkannter existiere, habe, wie ich mein Bewußtsein daher nicht in einer Innerlichkeit habe, sondern an ihm, der mich anerkennt, sofern ich an ihm das außer mir existierende Ich erkenne, wie ich also wirkliches Ich nicht in der Subreption eines logischen Ich (Kant) bin, sondern soweit ich mir von außen, aus dem Fremden entgegenkomme, so komme ich mir nur aus der Geschichte entgegen.“ Bruno Liebrucks, in: Drei Revolutionen der Denkart, Vortragsniederschrift, Steiner Verlag 1977, Seite 22 Es weicht sich aus, indem es auf den Anderen zugeht. Im Brennpunkt des Zugleich von Du und Ich3Vgl. Binswanger, in: Ausgewählte Werke Band 2, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Verlag Roland Ansanger, Heidelberg 1993, ab Seite 19 ff, und ab 107 f entsteht ein Nur-noch-im-anderen-sein-können – wenn man Ich will. Ohne den Anderen soll Ich nicht sein. Diese verquer Liebenden im Ich lösen sich auf, weil sie den Anderen umfänglich als Anderen einlösen. Ein neurotisches Verhältnis (die Verdrängung des Problems auf Kosten der Realität, Freud) vom sich ausweichenden Ich bestimmt die Paarbeziehung. In dieser Auswicklung des gebildeten Paares, in der Achterbahn um das Du weit vom Ich4Das Nur-noch-ohne-sich-im-anderen-sein-können wächst die Liebesbeziehung zur pathologischen Maske. In der Paarbeziehung Deckung suchend verkleinert sich das Ich: in der schützenden Reduzierung, systematisch Nichts, Niemand zu werden. Aber dies Schweigen im Nichts ist ein stilles Beladen im Lärm.
Hier scheint der Begriff der Entfremdung mit dem der Konstituierung des Ich durch das Fremde (als davon anerkanntes) – soweit es sich von außen, aus dem Fremden (als Wiedererkanntes) entgegenkommen kann – verschränkt zu sein. Die Selbstbegegnung mit dem Anderen im Ich bedingt ein Maß an Entfremdung des Selbst vor sich selbst, um sich selbst als Selbst entgegenkommen zu können. Das gehirnige Ego entwickelt sich zur entfremdeten Form des Denkens – die eigenen Gedankenkonstrukte stehen ihm fremd, feindlich und verrückt gegenüber.5Vgl. Jacques Lacan, in: Freuds Technische Schriften, Buch I, Quadriga, 2. Auflage 1990, Hrsg. von Jacques-Alain Miller, Seite 70 Insofern ist die entfremdete Form des Anderen oder der Andere ein Ich-Reservoir. Die self-alienation entzieht dem Subjekt die Orientierung im eigenen Haus, seine Konstituie­rung als Ich lässt es desto mehr die eigenen Gespenster erkennen. „…Warum entfremdet sich das Subjekt um so mehr, je mehr es sich als Ich affirmiert [konstituiert]?“6Lacan, in: Freuds Technische Schriften, Buch I, Quadriga, 2. Auflage 1990, Hrsg. von Jacques-Alain Miller, Seite 69
„Das Ich (…) ist absolut ununterscheidbar von den imaginären Verhaftun­gen, die es von Kopf bis Fuß konstituieren, in seiner Genese wie in seinem Status, in seiner Funktion wie in seiner Aktualität, durch einen andern und für einen andern. Anders gesagt, die Dialektik, die unsre Erfahrung unterstützt, indem sie sich auf dem einhüllendsten Niveau der Wirksamkeit des Subjekts situiert, verpflichtet uns, das Ich vom einen Ende zum anderen in der Bewegung der fortschreitenden Entfremdung zu verstehen, worin sich in der Hegelschen Phänomenologie das Selbstbewußtsein konstituiert.“7Jacques Lacan, in: Schriften III, Quadriga, 2. Auflage 1990, Hrsg. von Jacques-Alain Miller, Seite 184
Das Selbstbewusstsein wird von seinen Entfremdungsleistungen her konstituiert. Es muss aus sich heraus, weg sehen, sich verlassen… Zu prüfen ist der Zusammenhang von Entfremdung von sich als Einfühlung in den Anderen. Die Einfühlung in dein Leiden zieht mich aus mir heraus? Affirmation und Fettisch, Erotik arbeiten vom Fremden her. Identifizierte Fremdheit als das Andere, das mich bewohnt oder dessen Haus ich begehre, worin ich mich heimischer fühle als in mir selbst, setzt das Werben um den Geschlechtspartner in Gang. Der geliebte Andere hat Informationen, die der Liebende, das andere Ich, nicht hat. Bevor der Geschlechtsakt vollzogen wird, braucht der jeweils Andere die Anerkennung, das er ein Anderer ist. Erotik als genealogische Brücke, die Fremdheit, das Andere als Ich-Schranke zu überwinden. Das Erotische fungiert als Vermittler, Kuppler zwischen Entfremdung vom Ich und Einfühlung ins Ich am Anderen (wo die Affirmation des Ich mit sich selbst in der Liebe zum Anderen sich ausdrücken, darstellen kann). Wenn ich leiden kann, weil es in dir schmerzt, dann so, weil ein Teil von mir zu dir fortgegangen ist: als Schmerz es sich mir zeigte; in körperlicher Verwandtschaft, Empathie. „Im Willen zur Vereinzelung auf sich selbst bekundet sich also zugleich der Unwille zur Gemeinsamkeit mit andern. Weil das Dasein ursprünglich Mitsein ist, bedeutet die Position des Einzelnen, der so ist, wie einer einzig und allein nur selbst sein kann, somit eo ipso eine Opposition gegen alle ‚anderen‛, welche andern sich ihrerseits – vom Standpunkt des sie ausschließenden Ich aus gesehen – als öffentliche Allgemeinheit bestimmen.“8Ludwig Binswanger, in: Ausgewählte Werke Band 2, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Verlag Roland Ansanger, Heidelberg 1993, Seite 109 Dem ist das Ich ausgesetzt.
Das Ich vergisst sich, es strömt durch sich an sich vorbei, indem es für Andere, Anderes ist. Das eigene Leiden findet im Anderen ein zu Hause und findet nicht mehr heim. Dem anderen tut es weh.
Die geliebte Person als ein Außer-mir-seiendes Ich, ein Fremdes, unbekanntes Ich, als eine Möglichkeit, durch den Anderen sich sich selbst vorzustellen – wiedergefunden durch den Anderen. Am Anderen probiert der liebende Ich-Sucher, wie er sein möchte, wie er auf seine Fragen, Antworten erhält: Erwiderung und Imagination. Die Vorstellung der Möglichkeit (der Liebe) ist hier eng an die Nicht-Verwirklichbarkeit der Möglichkeit gebunden. Die vorstellbare Möglichkeit (von X, von Liebe, irgendwas) entsteht gerade aus dem Moment, das sie vorgestellt werden kann – das sie also erst durch die Vorstellung ihren Möglichkeitssinn erhält. Die Bedingung der Vorstellung wird aus der Realität abgezogen. Die Qualität der Vorstellung, des Sich-aus-Malens eines So-und-so-könnte-es-sein, wird aus der Leblosigkeit tatsächlicher Existenz, aus der Nichterfüllung einer nicht-realisierbaren Liebe gezogen. Vielleicht entspricht die Fähigkeit zur Einfühlung in einen vorgestellt anderen Menschen dem, was der einfühlende Mensch über sich vorstellen und ausdrücken kann. Die Selbstreflexion wird zugunsten einer praktischen Erprobung am Anderen verschoben, externalisiert.
Die vollzogene Einfühlung (das Eingefühltsein) als gelungene Übertragung. Liebe als Annahme der Übertragung; einer trage des anderen Last – nachdem er seine nicht zu tragen bereit ist. Übertragung bedeutet, etwas abzugeben, was die eigene Person zu sehr beschwert, was nicht mehr getragen werden kann.9Zum Widerstand als Funktion der Übertragung siehe Jacques Lacan, in: Freuds Technische Schriften, Das Seminar Buch I, Quadriga 2. Auflage 1990, Hrsg. von Jacques-Alain Miller, z. B. Seite 56: „In derjenigen Bewegung, in der sich das Subjekt einbekennt, tritt ein Phänomen auf, welches Widerstand ist. Wenn dieser Widerstand zu stark wird, taucht die Übertragung auf.“ Insofern hat die Filmindustrie ein Problem – einen Widerstand, den sie unter immensen Kosten überwinden möchte. Nicht der Zuschauer fühlt sich in den Helden ein, sondern der Filmbetrieb fühlt sich in seinen Zuschauer, Kritiker, Therapeuten ein. Eigentlich überträgt sie ihren Widerstand gegen die Menschlichkeit (allgemein, im Bemühen den Zerfall zu erhalten) auf die Zuschauer mittels „Einfühlung“. Atlas. Man ist des Tragens über-drüssig. In der Geburtshilfe wird davon gesprochen, daß das Baby übertragen ist, also getragen über den – für die Mutter – tragbaren Zustand hinaus. Die Übertragung auf andere, wenn das Getragene zu schwer, wie festgestellt, oder zumindest die Projektion des Übertragens, des Übertragen-Könnens Erleichterung verspricht. Transit. Die Leistung besteht mehr darin, sich zum Vehikel des Transports – wie heißt es so schön: Träger des Erbgutes – der Übertragung, zum Transportmittel zu machen, als zum Transportierten selber. Die Wege zu finden, die Energie aufzubringen, einen Ort der Übergabe zu erspähen. Es scheint nicht beliebig zu sein, an wen oder was die Übergabe, die Übertragung seine Statt/ Kommunikationsebene findet. Fetische als Übertra­gungsempfänger /-Medien per se: Hier kann ich meine Sehnsucht abladen, draufsetzten, durchschleusen.
Die betrachtete Person, das ‚Du‘, ist jene Person plus meine Betrachtung, mein Bedürfnis nach Ich-Konstruktion. Wie groß ist mein Anteil meiner Erfahrung an deiner Erfahrung und welcher Anteil entspricht deinem Verhalten auf mich? Ein ‚Du‘ meint das ‚Ich‘ in dir, worin du selbst die Differenz zwischen deinem Ich und meinem gemeinten Du erfährst, worin ich mich als Differenz wahrnehme und im Durchlauf des sprachlichen Lebens wirst du mein Ich in dir – wenn du es annimmst. Ein an dich gerichtetes ‚Du‘, ist mein einsetzendes Ich, ein von mir eingesetztes Ich. Sobald ich ‚Du‘ sage, beginne auch ich, beginnt mein Ich – im Normalfall. Es gilt diese Produktionsstätte zugunsten der Liebe aufzubrechen, um dich aus mir und mich aus dir auszutreiben. Das wäre kein Liebesverlust, weil der geliebte, bekannte Feind aufhört, mein altes besetztes Ich in dir stirbt. „Als ‚Du‘ bist du mir gegenüber nicht dadurch selbständig, daß du dich auf dich selbst zurückziehen und dich so für dich selbst als (anderes) Ich bestimmen kannst, sondern deine Selbständigkeit kannst du mir positiv nur dadurch erweisen, daß du als zweite Person dich zugleich in erster Person zur Geltung bringst, wie auch andererseits Ich – die erste Person – zugleich als der Deine – in zweiter Person – bestimmt bin. Zumeist bist du für mich zwar ‚zweite Person‘ – Du eines Ich –, aber indem wir zueinander im Verhältnis stehen, entdeckt sich in dieser zweiten Person eine selbständige ‚erste Person‘, zeigst du dich mir als ‚Du selbst‘.“10Ludwig Binswanger zitiert Karl Löwith (Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme. Drei Masken Verlag, München 1928), in: Ausgewählte Werke Band 2, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, Verlag Roland Ansanger Heidelberg 1993, Seite 108

 

 

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