244, Erfahrungsfreeze – die erstarrte Form

Sich kaum ändernde Wahrnehmungssituationen: wir sprechen von sozialen Blasen oder Filtern, führen zu stabilen, kontinuierlichen Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungszuständen – in dem Sinn: auch zu stabilen Irrtümern.
Gefangen im Erfahrungsfreeze.
Das heilende Negative – die erkannte Differenz zur gewohnten körperlichen Funktions-Erwartung als markierter indifferenter Zustand zum Ausdrucksgebrauch in der künstlerischen Arbeit, wird durch den schmerzlichen Abschied von bisher gebrauchten Formen des körperlichen Ausdrucks wieder in Bewegung gebracht. Künstlerische Arbeit hat daher eine Nähe zu psychischen Überforderungen.

Die erstarrte Form
Die Plausibilität gemachter Erfahrungen bildet feste Rahmungen, in denen das Verhalten durch das Festhalten an ihnen plausibel gemacht wird, sinnhaft wirkt. Erzeugtes Werden im Stillstand: als formale Reduktion. Der Film über das Stillleben als ein stilllebender Film, durch die notwendige Bewegung des Filmmotors zustande gekommen, um die Stille in den Film zu bringen. Plausibilität, Konsequenz als Sinn entsteht durch die konsequent festgehaltenen formalen Unterscheidungs-Verfahren mit dem jeweiligen Gegenstand. Logische Stringenz tritt in ihrer Wiederholung vom Ende her zu tage:1Bertolt Brecht, in: Arbeitsjournal, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1977, ab Seite 111: […] „daß ich an einen jener filme denke, die zurückgerollt werden, so daß das gestürzte pferd sich in der zeitlupe aufrichtet und über die hürde zurückspringt, nein schwebt, wobei volle logik exekutiert wird und kein moment bleibt, der außerhalb der gesamtbewegung existiert.“ Hieraus ist zu entnehmen, daß „Logik“ einen retrospektiven Standpunkt erzwingt, dass sich der negative (umgekehrte) Handlungsstrang hermetisch gegen die wirkliche Zeit abriegelt, bzw. dass diese Logizität ihren Charme aus ihrem unwirklichen – schwebenden – Zustand gewinnt. Als künstlich eingeführte Unterscheidungen eines selbstreferenten Beobachters bzw. durch die besessene Erfindung bequemer Falschheiten.2Nüchtern vorstellbar wird es wieder mit Luhmann: „Der Beginn einer Arbeit an einem Kunstwerk besteht in einem Schritt, der vom unmarked space in eienen marked space führt und damit die Grenze schafft, indem er sie kreuzt. Spencer Brown nennt das: draw a distinction.“ In: Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp Verlang Frankfurt am Main, 1. Auflage 1997, Seite 189 In der Suche nach Gewissheit (Wissensruhe als Sicherheit) gilt es permanent zu formalisieren, bis sich eine Tatsachenlandschaft, ein Formenareal ergibt, das regelrecht bestimmte Entscheidungen/ Differenzierungen/ Unterscheidungen erfordert und erlaubt. Formaler Sinn als Reduktion von Komplexität – im Meer der Möglichkeiten.

Bindung an Form und Erfahrung
Wenn also der Status quo der Bindung an gemachte Erfahrungen (gefundene Formen) als Ausschluss anderer, differenter Möglichkeiten aufrecht erhalten werden soll (fitting), um die bereits vollzogene Anpassung an  Lernkontexte zu rechtfertigen (um sie für die spätere Nutzung zu bewahren), müssen Kriterien (Determinanten) ins Feld geführt werden, die dies erlauben. In der Abgrenzung vor divergenten Möglichkeiten werden Möglichkeiten der Abgrenzung erzeugt. In der Erfindungsgabe zur Verteidigung jeweiliger Möglichkeiten sind sich die formalen Kontrahenten näher, als es ihre Intention zementiert.
Der eigens zu formulierende Anteil im zu etablierenden Entscheidungskonzept – lass ich mich auf neue formale Möglichkeiten ein oder beharre ich auf das Reservoir meiner Erfahrung – entleert sich gewöhnlich zu Formalismen, wenn die Angst vor dem Scheitern größer als die Möglichkeit des Erfahrungsgewinns. Ein formales Herangehen – also bei bekannten Formen zu bleiben bzw. sie zu repetieren – entleert genau darin die künstlerische Form, die der Künstler mit den in ihm abgelegten gesellschaftlichen Formenlandschaften bei sich finden muss, indem er die bisherige Form als Hülle einer Metamorphose zu neuen entdeckt. Dieses formale Festhalten entsinnlicht und entmaterialisiert die Wahrnehmung zugunsten ihrer verweisbaren Abbildbarkeit. Hiermit wird das „Konzept“ hinter der (künstlerischen) Arbeit abgesichert und die Sinnlichkeit der frontal wahrzunehmenden Formen reduziert.3In diese Richtung formuliert Niklas Luhmann, in: Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1. Auflage 1997, Seite 202: „Die Überzeugungsmittel bedienen sich also auch hier der Wahrnehmung, nicht des Denkens.“ Das formell abgesicherte Gebiet ist ein Gespenst seines Erzählstoffs geworden. Eine stilistische Sackgasse. Abstrakte Kunst? Das Unsichere in der Gegend ist der Mensch – und der konnte zunehmend aus dem erstellten Bewertungskartell eliminiert werden. (Auch für Künstler ist es schwer, das sich angeeignete Formenimperium stets neu zu stürzen und sich in einen unfit state zu werfen. Denn neue/ andere Formen zu formen, heißt, Unterscheidungen zu lernen.) Ein Indiz für Menschen Künstler, die sich Kontext bezogen entwickeln, die sich auf formal abgesichertem Feld bewegen, ist deren enzyklopädisches Wissen zum Konzept „hinter“ ihrer Arbeit. Als frei gilt jemand im Kontextbordell der Kunst, wenn er hinsichtlich seines ausgemachten Arbeitsfeldes soviel wie möglich kontrollieren kann und darüber Übersicht erhält bzw. erhalten kann, wenn nur eine vorher festgelegte Menge von Variablen innerhalb dieser Menge in Aussicht steht. Aber was ist ausgemacht, was ist das anzunehmende Arbeitsfeld? Die dadurch stetig erforderliche Infiltrationen – Vernetzungen – des Arbeitsgegenstandes (Kunstwerks) durch formale Kontrolltechniken und Übersprungskontexte erscheint zwangsläufig, andererseits schützt die Spezialisierung, Einengung vor der Zerreißung vor dem und durch den formal unerledigten Rest: Unrat. Die antialtruistische Attitüde verkaufsträchtiger Marktteilnehmer (Händler und Künstler) verhält sich wie das Kaleidoskop mit den in ihm festgelegten Bestandteilen, „dem bei jeder Drehung alles Geordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt.“4Benjamin, Das Passagen Werk, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1991, Seite 428

Entleiblichung
Die Freiheit wird als nur privater Umgang mit weltlichen Gegenständen, Phänomenen missverstanden – der Freiheitsgrad des Bourgois versteht er als Bemächtungsgrad – statt als Bezug zu sozialen Beziehungen zwischen Menschen. Es ist der kommunikative Austausch zwischen den Menschen, der sie sozialisiert. Man ist nicht frei, weil man Kunst machen kann, sondern, indem man Kunst macht, erlangt man Freiheit. Die Subjektbehauptung als Behauptung des Subjekts findet in dessen verstärkten Objektivierung seiner Lebenswelt statt – Individualismus als Defekt. Die Schwere des Subjekts aber soll verringert werden. Tatsächlich erleichtert sich es. Wie? Durch Entleiblichung – die festgemachte und formal ermittelte, in Kontrolle gebrachte Ding- und Faktenwelt (die Empirie) wird ermächtigt zur Herrschaft über das Leben, über die Form der (kontrollierbaren) Technologie. Das Leben nach Dienstvorschrift ist vielleicht leichter zu ertragen als das eigene, als das selbstständige Formulieren eigener Lebensschrift. Unter dem Druck des logifizierten und logifizierenden Alltags – die wachsende Rationalisierung durch Formalisierung und Formalisierung durch Rationalisierung des Alltagslebens als dessen Auflösung in Tauschwerte – werden die nötig gewordenen, größer werdenden Egoismen des Subjekts wiederum sinnvoll, wenn es sich unter dem Operationszwang alltäglicher Komplexität der Lebensumstände einrichtet – d.h., der Egoismus richtet sich gegen das eigene Operieren-Müssen, gegen die vermeintlichen und real dargebotenen Entscheidungskalküle. Simply clever bedeutet hier, die Vorgänge der Wirklichkeit zu trivialen Modellierungen zu vereinfachen. Auf die Komplexität zu pfeifen, bedeutet daher in einer sich mehr und mehr ausdifferenzierenden Welt, gegen die anderen Mitglieder der Kontextebene (Gesellschaft) zu operieren – solange es eben geht. Die dafür benutzte rechtfertigende Struktur der aufgezwungenen verdinglichten Verhältnisse rationalisierten Lebens bietet ein Argument, gar nicht anders zu können, mit und ohne Rechtfertigung vor anderen Subjekten. Solche Realisierung des Lebens geht mit dem Verlust an Realität konform. Wenn ich die komplexe Empirie aus meiner Welt abschiebe, sie z. B. einer Spezialwelt einer Sprache unterstelle, sie mir darin mit Distanz vom Leibe schaffe, starr mache, formalisiere etc., entleibliche ich mich damit zusehens. Das Ich als gesprochene Form – seine Sprache – verkörpert in seiner Sprachlosigkeit, in seinen sprachlichen Entbehrungen seine menschliche Entleiblichung. Verdinglichung und Entleiblichung sind der gleiche Glanz am selben Metall. Auf der Rückseite schillert die Existenz dahin. Die menschliche Verkörperung geht aufs Objekt über. Fetische sind Postkarten verlorener Liebschaften.

Stilistische Sackgasse
Die vordergründig plausible, konsequente, weil wiedererkannte Form gefriert zur stilistischen Sackgasse. Als würde erst das Starre, fest Differenzlose den Charakter des Plausiblen, Konsequenten ausmachen. Die Schwierigkeit besteht darin, diese festen Formen, starren Oberflächen wieder aufzubrechen, das Widererkennen selbst zum Anti-Material zu machen.5„Von ästhetischer Erfahrung sprechen wir vielmehr erst, wenn unser Verstehen die Ordnung bloßen Wiedererkennens verläßt und das Wiedererkannte zum Material macht, an dem es Bestimmungen auswählt und aufeinander bezieht.“, Christoph Menke-Eggers, in: Die Souveränität der Kunst: Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. In: Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp 1997, Seite 170 Der Genuss der Wahrnehmung und Herstellung von Kunstwerken gründet sich auf der ästhetischen Zerstörung seiner Formen als Neu-Formulierung – also: Neu-Differenzierung. Im zerstörerischen Formulieren des Neuformulierens kann sich der Beobachter als Beobachter wahrnehmen: in der Vertilgung von (ästhetischer) Form gebiert er seine individuell eigenen. Die zwingende, aber wiederholende Form des Erstarrens, des Stils trägt daher redundante Steine vor sich her. Ohne Differenz keine Existenz.