73, Hören und Sehen

Aufhören, Gehorchen, „Du hörst nicht“ (folgst nicht) – dem Hören folgen.

Der Wahrnehmungsdruck scheint auf das Hören (Gehörte) größer, denn auf das Sehen (Zeigen). Das Hörbare springt einen mehr an, findet direkt Gehör,  statt die stille Buntheit der Umgebung, der Bilder. Die Augen zu schließen oder abzuwenden ist leichter, als die Ohren abzudichten. Der Körper ist in den Hörvorgang direkter eingebunden als beim Sehen: Manche Eltern sagen zu ihren Kindern „gehorche!“ oder wir sagen „hör auf!“. Über Amboss und Hammer werden die Laute in uns hineingeschlagen, durch den Gehörgang geschleust. Beim Sprechen hört man seinen Körper als Echo stets mit: Man gehört sich.

Aber wenn die Bilder Empathie einfordernde Gewalt darstellen, dringen sie besetzend ins Hirn ein. Man kann wegschauen – woanders hin. Die Empathie fürs Leiden des Anderen sprengt die sinnlich-ästhetische Gestalt (Form), geht über sie hinaus in ein Empfinden hinein. Der Augenschein eines massakrierten Körpers auf Papier (oder im Film, im TV) macht den Zuschauenden zum Komplizen. Die Bilder (die Formen in ihnen) haben die Kraft, das Leben (durch die Formen in den Bildern) zu präformieren. Die visuelle Memorierung bzw. Besetzung scheint leichter als die Erinnerbarkeit tonaler Abfolgen. (Vielleicht deshalb, weil die akustische Form konkrete gefühlsmäßige Begleitumstände braucht, um verankert zu werden bzw. setzt das Hören-Wollen eine Stimmung voraus). Die Fassbarkeit der Form von tonalen Medien ist zeitlich verflüchtigender als die von visuellen Medien. Der Ton verschwindet im Hören und ist auf die Erinnerung an ihn angewiesen. Ein Bild bleibt stehen, hängen – es ist fassbar als Frame. Filmsequenzen werden mit musikalischer Hilfe präsent, tonlos kaum. Die laut gelesene Schrift scheint ein doppeltes Zeigen: Man hört sich, indem man liest und die Buchstaben im Zusammenhang sieht. Als Hörbares ist ein Gedicht ein Hörbares wie Lesbares ein wahrzunehmendes Moment und ein bedeutendes zugleich. Kaum in einem anderen Medium als in der Schrift kann der Wechsel von Sehen und Hören ins verstehbare Angesprochene derart direkt dargestellt oder vollzogen werden. (Das zeigt, dass die Wahrnehmungsorgane nicht unabhängig voneinander operieren.) In der niedergeschriebenen, gemalten Form (wie z.B. in asiatischen Schriftzeichen), in der materialisierten Zungen–Sprachbewegung (in der Aussprache der Worte) kann der Mensch sich wieder von der Schwerkraft visualisierter Bedeutungsmuster leiten lassen ohne auf den akustischen Sinn von Sprachbewegungen verzichten zu müssen. Bedeutungsbildung verstärkt durch den Augensinn wirkt ausgeprägter als (nur) durch den Hörsinn – auch wenn sie beide eine Art Rückübersetzung bzw. Transformierung der Sprache ermöglichen. Der Empfindungssinn gegenüber dem Gehörten ist stärker als der Bedeutungssinn gegenüber den Zeichen der Sprache.

Ich höre nicht nur das Schlagen, ich fühle es auch. Der ganze Körper hört mit. Die physische Qualität von Tonfrequenzen ist eindringlicher als der von Lichtwellen.

 

 

 

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