171, Geschichte als künstlerische Aneignung
„Wer schreibt, der sucht.“ 1vgl. Klaus Heinrich, in: Vernunft und Mythos, Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/ Roter Stern: 1992, ab Seite 57
Wer schreibt, beschleunigt seine Geschichte, weil er mit den Mitteln der Sprache seinem Erfahrungsstoff vorgreifen kann. Den Begriffen sind Erfahrungen, Geschichten eingeschrieben, die immer schon Zitat sind, auch wenn sie vom Sprecher noch nicht er- oder gefüllt sind.
Wer sich in der Sprache findet, die noch nicht gefüllte – sinnlich wahrgenommene – Welt zu beschreiben, verliert sich in ihr, schreibt sich zugleich in sie ein – als Sprachwelt – und nimmt nur in Begriffen Platz neben den zu beschreibenden Gegenständen. Die Literatur verfängt sich in ihrem Gegenstand, wird von ihm verwickelt, statt ihn zu fangen. Im Beschreibungsvorgang selbst wird die Wirklichkeit des Beschreibenden entworfen. Geht die vorgestellte Beschreibungsperspektive mittels der sozialisierenden wie sozialisierten Sprache ins beschreibende Individuum ein.
Wer in der Gegenwart nicht sucht, hat in der Geschichte nichts verloren. Vice versa. Wer in der Gegenwart nichts zu verlieren im Stande ist, hat in der Geschichte nichts zu suchen. Die Konzentration der Sprache auf die Gegenwart, auf das Alltägliche lähmt und verzögert deren Verschwinden. Der Festhaltegriff der Tinte. Das verzögerte Verschwinden analoger Sprache ist der medial sich manifestierende Prozess des Gesprochenen. Durch die Verzögerung bleibt erst was festzuhalten, kann man beschreibend zugreifen. Es scheint, daß im phänomenologischen Festhalten, eine Herauslösung der Beschreibungsobjekte stattfindet. „Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung.“2Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, § XVII „Auf dem Gegenstand liegend“, gewährt das heutige Beschreiben den Enkeln Einsicht und fördert bei den Erben den Prozess des Lernens statt des Schreibens, dass endlich Sprache Feuer fängt.
Wer die verkehrte Welt beschreibt, ist in seiner Beschreibungshaltung bedroht. Obwohl er „einen Ausweg sucht aus ihr“3Klaus Heinrich, in: Vernunft und Mythos, Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/ Roter Stern: 1992, ab Seite 57, dringt er in sie tiefer hinein, suchend nach Sinn, nach Worten, wie sie zu schleifen. Aber die Entzauberung der Welt erfordert ihre eigene Verkehrung. Das Entschleiern eines Gegenstandes ist an das ‚In-Frage-stellen‘ des Beobachters gebunden; Verwirklichung und Entzauberung, Reiter und Pferd, Botschaft und Medium bedingen sich. Fortschreitende Beschreibungstätigkeit -und Treue setzt einen Fortschritt an Beteiligung in Gang.
Das Modell der Beschreibung eines Konzentrationslagers von innen her als Beispiel eines ambivalenten Verstrickens mit dem Gegenstand der Beschreibung, bedarf der Kritik, wenn der Beschreibende in-eins scheint, in-eins-sich-setzt mit der Schuld der zu beschreiben Taten & Täter – um ihnen beschreibend näher zu kommen… Die Verbindung der Beschreibung mit dem Gegenstand der Beschreibung geht vom Beschreibenden aus. Dieses Beobachten erzeugt eine Ohnmacht durch Distanz – auch wenn der Gegenstand Distanz einfordert, um überhaupt beschrieben werden zu können, macht die Distanz den Berichterstatter auch zum Komplizen. Um Ohnmacht zu erzeugen, sei geraten, so den Gegenstand zu beschreiben als könnte nichts pro und kontra getan werden. Daher hat das Beschreiben auch stets etwas Manipulatives, retrospektiv Ent-Gültiges.
Wer sich ein-schreibt, beschleunigt seine Geschichte. Mit dem Beschreiben, Überschreiben, Aneignen kommt man der Wirklichkeit, der Enteignung der Gefühle nicht davon.4vgl. Negt, Kluge, Geschichte und Eigensinn, Edition Suhrkamp, Seite 38
Beschreibungsnarrative
In den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen angekommen, beruflich eingeordnet, werden Beschreibungsszenarien zu Instanzen der Entfremdung, der Bewerbungsbiografie, der Anstreicherei; nichts wird mehr „aus dem Zusammenhang gerissen“, um es tatsächlich in den Zusammenhang der Wirklichkeit zu bringen, – die umhegten Gefängnisse sollen nichts miteinander zu tun haben.5vgl. Bertolt Brecht, in: Arbeitsjournal, Eintrag vom 3.08.1940 Die Berichterstattungen schieben sich zwischen den Empfänger und dessen möglicher Erfahrung. Das Subjekt wird zerrissen und wo es sich zum Verwalter und Behandler von Sachen erklärt, befindet es sich bereits in Auflösung und wird der Sache, dem angezeigten Gegenstand gleich, Subjektlos. Das Interesse an Gestalten und Gestaltung ist oberirdisch, eine Frage des Layouts. Aus den herrschaftlichen Beobachtungstürmen wird das zu beschreibende, zu beobachtende Feld nur erblickt, längst nicht als begreifbar dargestellt – denn mit der Ohnmacht kann man sich einrichten. Die an der phänomenologischen Front Arbeitenden und deren Nutznießer haben den Auftrag, Informationen zu produzieren. Die Beschreibung (Berichterstattung), Nachrichtenmasse dünnt nach oben hin in technische Raffinesse des Mediums aus – wie ist es erzählt, mit welcher Auflösung: sensationell! Es entstehen Nachrichten, auf die wir kaum lebensnahen Zugriff üben können. Nutznießend unbeachtet tobt der Kampf unter der Patina der Oberfläche der Wiedergabemedien unserer Egos.