74, Systemtheorie

Der gesellschaftliche operationale Raum des Subjekts übersetzt im schönen Begriff der Wirklichkeit, zerteilt sich unablässig in Bestandteile, Wirklichkeitsbereiche, d. h., die Wirklichkeit wird stetig aus unter­schiedlichen operativen Kriterien jeweiliger Beobachtungssysteme heraus differenziert und segmentiert. Dieser Verwirklichung-Raum (oder der operable Bezug zu ihm) wird aus immer mehr werdenden funktionalen Bezugs-Teilen zusammengesetzt. Das bedeutet, dass die Bestandteile sich relativ zur Gesamtbedeutung verkleinern, denn sie müssen alle im selben Gefäß Wirklichkeit Platz nehmen. (Natürlich wird das Gefäß selbst auch größer.) Die Idee eines gesamtoperablen Betätigungsfeldes löst sich auf, wird nichtig. Die Ganzheit des Subjekts wird in dessen Funktionalitäten – je nach Wirklichkeitsbezug –  parzelliert.
Die Informationen verschachteln sich einander. Für uns die Gefahr, sich zwischen den Unterschieden (= Informationen) keine weiteren Unterscheidungen treffen zu können, vor dem Medium der Beschreibung formal zu ersticken, d.h., ohne Differenz zur Information (Form, Unterschied) wird man zum Anhängsel der zu beschreibenden Form, zum Parteigänger des beschriebenen Objekts. So entstehen immer mehr und neue Konstellationen von unfassbaren, ungewöhnten – nicht-operablen – Bezugspunkten im Beschreibungs­dickicht: es entsteht Komplexität. Die zunehmende Beschreibungsmasse  als Informationsprosa steigert den verhältnismäßigen Verlust an Informationen über die gestauten Teile, die mit jeder neuen Information nicht ohne Mühe in – neue – Form gebracht werden können. Die Vervielfältigung der Details ermöglicht eine sich gegen die Beschreibungsmasse abdichtende Detailversessenheit – als Manierismus in der Kunst kenntlich. Es scheint eine Gegenbewegung zur anschwellenden Komplexität der Umwelt zu sein, auf simple Formen zurück zu greifen. Das-sich-Ergießen in Details ohne deren Einordnung zu einer möglichen (übergeordneten kategorialen) Bedeutung, ist entweder eine künstlerische Materialbeschaffung oder eine autistische Begabung. Von beiden Seiten wird um die Reduzierung von Komplexität durch (formale) Selektion gerungen, um Komplexität (Form-Bildung) herzustellen bzw. aufrecht zu erhalten.1„Komplexe Systeme sind mithin zur Selbstanpassung gezwungen, und zwar in dem Doppelsinne einer eigenen Anpassung an die eigene Komplexität.“ Niklas Luhmann, in: Soziale System, Grundriß einer allgemeinen Theorie, stw 666, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1987, Seite 56 Das scheint paradox, aber man schafft Komplexität, um Komplexität zu lenken, auszuhalten, reduziert sie, um sie an anderer Stelle zu erzeugen. Dies schafft neue Komplexität, die früher oder später durch die Einführung neuer Kriterien der Differenz (Selektion) spezifiziert, d. h. markiert wird oder sie wird als andere thematische Ebene, als anderer Realitätsbereich etabliert. Die fortschreitende Beschreibungsfähigkeit erlaubt einen Fortschritt an Beteiligung der divergierenden Teile (durch die Beschreibungstätigkeit), denn das Beschreiben ermöglicht ein Reservoir an Möglichkeiten, d. h. es schafft ein Feld, indem gewählt oder ausgeschlos­sen werden kann. Dieses Reservoir an Möglichkeiten dissoziiert das Operationsfeld für Unterbrechungen, woraus Subjektivierung für den eigenen Möglichkeitssinn gegossen wird. Distinctions offers possibillitis.
Die Steigerung der Komplexität in jeglichen Produktionsprozessen (= Formierungsprozessen) fordert stets zu neuen Mühen und Arbeitszeiten im Differenzierungsakt des menschlichen Arbeitskörpers – und entwertet die aufgewendeten. Die Bedienung des Mediums tritt in den Vordergrund – kaum mit Bildung von Form: Bedeutet das nicht einen Verlust an individuell gestaltbaren Kreationen?
Am Beispiel der Massenmedien ist erkennbar, dass die minütliche Sendung von Nachrichten ihren informativen Charakter verliert, weil die informative Sequenz das Empfangen abstumpft. Es ist Produktion von Informationen angesagt, denn die Kommunikationsmedien müssen weiter laufen. Hier wird zuerst das Medium bedient. Es ist Geschichts- bzw. Gedächtnisverlust im Gange, weil ständig gequatscht wird.2Zum Gebrauch von Informationen bzw. der Verteilung der „Wahrheit“ (die schlechten Nachrichten z. B.) in den Massenmedien ist bei Heinrich von Kleist folgender Hinweis zu finden, in: Lehrbuch der Französischen Journalistik, Heinrich von Kleist sämtliche Werke, Hrsg. Paul Stapf, Emil Vollmer Verlag München, Wiesbaden, Seite 1050): „(Aufgabe / § 23/ Dem Volk eine schlechte Nachricht vorzutragen.) Man schweige davon (§ 5), bis sich die Umstände geändert haben (§ 15). Inzwischen unterhalte man das Volk mit guten Nachrichten; entweder mit wahrhaftigen aus der Vergangenheit, oder auch mit gegenwärtigen, wenn sie vorhanden sind, als Schlacht von Marengo, von der Gesandtschaft des Persenschahs und von der Ankunft des levantischen Kaffees, oder in Ermangelung aller mit solchen, die erstunken und erlogen sind; sobald sich die Umstände geändert haben, welches niemals ausbleibt (§ 20), und irgendein Vorteil, er sei groß oder klein, errungen worden ist, gebe man (§ 14) eine pomphafte Ankündigung davon; und an ihren Schwanz hänge man die schlechte Nachricht an. q. e. d.“ Und man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Die schiere Abfolge der Info-Ereignisse löscht sie aus und macht sie stumpf gegen andere.

 

 

 

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